Wintersturm
sah gerade noch, wie ein Foto von ihm gezeigt wurde, und hörte eine Stimme, die ihn als den vermißten Zeugen im Mordfall Harmon beschrieb. Wie betäubt vernahm Rob, was der Ansager in der Zusammenfassung der Nachrichten über das Verschwinden der Eldredge-Kinder berichtete. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Rob das Gefühl, in einer Falle zu sitzen.
Jetzt, wo er sich den Bart abrasiert hatte und das Haar kurz trug, sah er genauso aus wie auf dem Bild.
Wenn Nancy Eldredge tatsächlich auch diese Kinder umgebracht hatte, wer würde ihm dann schon glauben, daß er nichts damit zu tun hätte. Es mußte unmittelbar vor seiner Ankunft passiert sein. Rob dachte an den alten Ford, der rückwärts aus dem Feldweg herausgesetzt hatte, kurz bevor er selbst dort einbog. Zugelassen in Massachusetts, die ersten beiden Ziffern 8-6-… korpulenter Kerl am Steuer.
Aber darüber konnte er nicht sprechen, selbst wenn sie ihn schnappten. Er konnte nicht zugeben, daß er heute morgen am Eldredge-Haus gewesen war. Wer würde ihm glauben, wenn er die Wahrheit sagte? Der Selbsterhaltungstrieb gebot Rob Legler, vom Kap zu verschwinden, und es war ein klarer Fall, daß er nicht in einem hellroten Dodge, nach dem jeder Polyp Ausschau hielt, davonfahren konnte.
Er packte seine Tasche und schlich aus dem Hintereingang des Motels. In der Parkbox neben dem Dodge stand ein Volkswagen. Durch das Fenster hatte er das Paar gesehen, das ihn da abgestellt hatte. Sie waren gekommen, kurz bevor er die Nachrichten angestellt hatte. Wenn er die Situation richtig einschätzte, würde er ein paar Stunden vor ihnen Ruhe haben. Und außer ihm war sonst niemand draußen, der es gewagt hätte, dem Graupel und dem Wind zu trotzen.
Rob öffnete die Motorhaube des Käfers, schloß ein paar Drähte kurz und fuhr davon. Er würde die Route 6 A nehmen, die zur Brücke führte. Mit ein bißchen Glück würde er in einer halben Stunde das Kap hinter sich haben.
Sechs Minuten später durchfuhr er ein Rotlicht. Dreißig Sekunden danach warf er einen kurzen Blick in den Rückspiegel und sah, daß er ein rotes Blinklicht reflektierte. Er wurde von einem Polizeifahrzeug verfolgt. Einen Augenblick lang dachte er daran, sich zu ergeben; dann gewann der übermächtige Drang, sich vor den ganzen Scherereien aus dem Staube zu machen, die Oberhand.
Als er um eine Kurve bog, öffnete Rob blitzschnell die Tür, klemmte das Gaspedal fest mit seinem Koffer und sprang heraus. Er verschwand schon in dem Waldgebiet hinter den stattlichen Gebäuden aus der Kolonialzeit, als das Polizeifahrzeug, nunmehr mit heulender Sirene, hinter dem wild schlingernden Volkswagen die abschüssige Straße hinabjagte.
19
Als Michael sich anschickte, die Treppe hinunterzulaufen, war er überzeugt, Mr. Parrish würde ihn fassen. Aber dann hörte er ein schreckliches Krachen, und das bedeutete, daß Mr. Parrish die Treppe hinuntergefallen war. Michael wußte, daß er keinen Lärm machen durfte, wenn er Mr. Parrish entkommen wollte.
Er erinnerte sich daran, wie Mami zu Hause den Teppich von der Treppe heruntergenommen hatte. »So, bis die neuen Läufer da liegen, habe ich für euch Kinder ein neues Spiel«, hatte sie gesagt. »Es heißt ›leise gehen‹.« Michael und Missy hatten sich einen Spaß daraus gemacht, auf Zehenspitzen an der Seite des Geländers die Stufen hinunterzugehen. Sie wurden darin so gut, daß sie oft leise hinunterschlichen und sich gegenseitig erschreckten. Jetzt ganz leise gehen, ganz genauso. Lautlos schlüpfte Michael bis ins Erdgeschoß hinab. Er hörte, wie Mr.
Parrish seinen Namen rief und sagte, daß er ihn finden werde.
Er wußte, er mußte aus diesem Haus herauskommen. Er mußte die Serpentinenstraße hinablaufen bis zu der langen Straße, die an Wiggins’ Market vorbeiführte. Michael war sich noch nicht schlüssig, ob er Wiggins’ Market betreten oder daran vorbeilaufen sollte, über die Route 6 A die Straße hinauf zu seinem Elternhaus. Er mußte Vati holen und ihn hierher bringen, wegen Missy.
Gestern in Wiggins’ Market hatte er zu Vati gesagt, daß er Mr. Parrish nicht leiden könne. Jetzt hatte er Angst vor ihm.
Michael fühlte, wie ihn die Angst zu ersticken drohte, als er durch das dunkle Haus rannte. Mr. Parrish war ein böser Mensch. Deshalb hatte er sie gefesselt und in dem Wandschrank versteckt. Darum war Missy auch so verstört, daß sie nicht wach werden konnte. Im Wandschrank hatte Michael versucht, Missy anzufassen. Er wußte, daß sie
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