Wintersturm
große Angst hatte. Aber er konnte seine Hände nicht freibekommen.
Drinnen im Schrank konnte er Tante Dorothys Stimme hören.
Aber sie hatte nicht nach ihnen gefragt. Sie war ganz nahe und merkte nicht, daß sie da waren. Er war sehr böse, daß Tante Dorothy nicht wußte, daß sie ihre Hilfe brauchten. Sie hätte es merken müssen.
Es wurde ganz dunkel. Es war schwer, etwas zu erkennen.
Am Fuß der Treppe schaute Michael umher, verwirrt, dann schoß er zur Rückseite des Hauses hinüber. Er befand sich in der Küche. Die Tür nach draußen war da drüben. Er hastete hinüber und streckte die Hand nach dem Griff aus. Er wollte schon den Schlüssel herumdrehen, da hörte er, wie die Fußtritte näherkamen. Mr. Parrish. Seine Knie zitterten. Wenn die Tür klemmte, würde Mr. Parrish ihn packen. Blitzschnell und lautlos huschte er zur anderen Küchentür hinaus, durch das Foyer in den kleinen hinteren Salon. Er hörte, wie Mr. Parrish die Küchentür verriegelte. Er hörte, wie er den Stuhl zur Tür herüberzog. In der Küche wurde das Licht angeknipst, und Michael verkroch sich hinter die schwere, dick gepolsterte Couch. Ganz still hockte er sich nieder. Er paßte kaum in die kleine Lücke zwischen der Couch und der Wand. Staub aus der Couch kitzelte ihn in der Nase. Er mußte niesen. Plötzlich ging in der Küche und im Foyer das Licht aus, und das Haus lag in tiefstem Dunkel. Er hörte, wie Mr. Parrish umherging und ein Streichholz anzündete.
Einen Augenblick später war die Küche in einen rötlichen Schein getaucht, und er hörte Mr. Parrish rufen: »Ist schon gut, Michael. Ich bin nicht mehr böse. Komm heraus, Michael. Ich bringe dich nach Hause zu deiner Mutter.«
20
Als er sich von Dorothy verabschiedete, hatte John Kragopoulos die Absicht gehabt, sofort nach New York zurückzufahren. Aber eine unbestimmte Niedergeschlagenheit und dazu Kopfschmerzen direkt über der Nasenwurzel ließen ihm die fünfstündige Fahrt plötzlich so erscheinen, als könnte er sie nicht bewältigen. Das lag natürlich an diesem fürchterlichen Wetter, und unvermeidlich hatte sich Dorothys großer Kummer auch auf ihn übertragen. Sie hatte ihm das Bild gezeigt, das sie in der Brieftasche bei sich trug, und der Gedanke, daß diese beiden hübschen Kinder einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnten, hinterließ in seiner Magengrube ein Gefühl von Übelkeit.
Aber welch ein unglaublicher Gedanke, grübelte er. Es gab immer noch die Möglichkeit, daß sich die Kinder einfach verirrt hatten. Wie konnte jemand einem Kind etwas antun?
John dachte an seine eigenen achtundzwanzig Jahre alten Zwillingssöhne – einer Pilot bei der Air Force, der andere Architekt. Prächtige junge Männer, alle beide. Eine Quelle des Stolzes für den Vater. Wenn er und ihre Mutter schon lange verschieden waren, würden sie noch leben. Sie waren Teil seiner Unsterblichkeit. Sich vorzustellen, daß er sie verloren hätte, als sie noch klein waren …
Er fuhr auf der Route 6A in Richtung Festland. Vorn rechts, von der Straße ein wenig abgelegen, gab es ein reizendes Restaurant. Die leuchtenden Schriftzeichen THE STAGEWAY
waren ein willkommener Gruß in der Düsternis des Nachmittags. Unwillkürlich bog er von der Straße ab auf den Parkplatz. Er merkte auf einmal, daß es schon fast drei Uhr war und daß er den ganzen Tag über genau eine Tasse Kaffee getrunken und eine Scheibe Toast gegessen hatte. Durch das schlechte Wetter hatte sich die Autofahrt von New York herauf so lang hingezogen, daß er gezwungen gewesen war, das Mittagessen auszulassen.
Er redete sich ein, daß es doch sehr vernünftig wäre, eine anständige Mahlzeit zu sich zu nehmen, ehe er die Rückfahrt wagte. Und es sei doch echter Geschäftssinn, wenn er mit dem Personal eines großen Restaurants, das in einer Umgebung lag, die er ins Auge gefaßt hatte, eine Unterhaltung anknüpfte.
Vielleicht könnte er ein paar brauchbare Informationen über die geschäftlichen Aussichten in dieser Gegend einholen.
Er ging direkt auf die Bar zu und zollte der rustikalen Einrichtung insgeheim seinen Beifall. Es waren keine Gäste an der Bar, aber vor fünf Uhr war das in einer Stadt wie dieser nicht ungewöhnlich. Er bestellte sich einen Chivas Regal und Eiswürfel; dann, als ihm der Barkellner den Whisky brachte, fragte er, ob es möglich wäre, etwas zu essen zu bekommen.
»Kein Problem.« Der Barkellner war ungefähr vierzig, hatte dunkles Haar und extrem buschige Koteletten. Beides
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