Winterträume
gesagt, tat es dann aber doch nicht, denn es hätte den Anschein erwecken können, als zweifle er Percys Behauptung an. Und eine derart erstaunliche Behauptung konnte man ja wohl nicht anzweifeln.
»Der bei weitem reichste«, wiederholte Percy.
»Ich habe kürzlich im World Almanac gelesen«, begann John, »dass es in Amerika einen Mann gibt, der mehr als fünf Millionen im Jahr verdient, und vier, die über drei Millionen im Jahr verdienen, und –«
»Ach, die sind gar nichts.« Percys Mund war ein Halbmond der Verachtung. »Zwergkapitalisten, Kleingeldsammler, Krämer und Geldverleiher. Mein Vater könnte sie aufkaufen und würde es nicht mal merken.«
»Aber wie kommt es –«
»Dass da nicht stand, wie viel Einkommensteuer er zahlt? Weil er keine zahlt. Oder jedenfalls nur ganz wenig. Auf sein wirkliches Einkommen zahlt er keine Steuer.«
»Er muss sehr reich sein«, sagte John nur. »Das freut mich. Ich mag sehr reiche Leute. Je reicher einer ist, desto mehr mag ich ihn.« Auf seinem dunklen Gesicht lag ein Ausdruck leidenschaftlicher Aufrichtigkeit. »An Ostern hab ich die Schnlitzer-Murphys besucht. Vivian Schnlitzer-Murphy besitzt Rubine, so groß wie Hühnereier, und Saphire, die wie von innen beleuchtete Globen aussehen –«
»Ich liebe Edelsteine«, stimmte Percy ihm begeistert zu. »Ich will natürlich nicht, dass sich das an der Schule herumspricht, aber ich habe eine ganz hübsche Kollektion. Ich habe sie früher anstelle von Briefmarken gesammelt.«
»Und Diamanten«, fuhr John eifrig fort. »Die Schnlitzer-Murphys haben Diamanten, so groß wie Walnüsse –«
»Das ist nichts.« Percy beugte sich vor und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Das ist gar nichts. Mein Vater hat einen Diamanten, der ist größer als das Ritz-Carlton-Hotel.«
II
Die Sonne, die über Montana unterging, lag zwischen zwei Bergen wie ein gewaltiger Bluterguss, von dem sich dunkle Arterien über einen vergifteten Himmel ausbreiteten. Eine immense Weite lastete auf dem Dorf Fish – es war winzig, trostlos und vergessen. In Fish, hieß es, lebten zwölf Männer, zwölf düstere, unergründliche Männer, die eine dünne Milch aus den beinahe buchstäblich nackten Felsen sogen, auf denen eine geheimnisvolle bevölkernde Kraft sie gezeugt hatte. Sie waren zu einer besonderen Rasse geworden, diese zwölf Männer, als wären sie einer bereits lange vergangenen Laune der Natur entsprungen, dann aber sich selbst überlassen und dem Kampf ums Überleben und schließlich der Auslöschung anheimgegeben worden.
Aus dem fernen blauschwarzen Bluterguss kroch eine lange Reihe Lichter über das wüste Land, und die zwölf Männer von Fish versammelten sich wie Geister an dem heruntergekommen Bahnhof, um den 7-Uhr-Zug, den Transkontinentalexpress aus Chicago, vorbeifahren zu sehen. Aufgrund eines unerforschlichen Ratschlusses hielt der Transkontinentalexpress etwa sechsmal im Jahr in Fish, und dann entstiegen dem Zug ein, zwei Gestalten, setzten sich in einen einspännigen Wagen, der stets aus dem dämmrigen Zwielicht auftauchte, und entschwanden in Richtung der sich ergießenden untergehenden Sonne. Die Beobachtung dieses absurden Phänomens war für die Männer von Fish zu einer Art Kult geworden. Sie wollten es lediglich betrachten; keiner von ihnen verfügte über die Einbildungskraft, die ihn befähigt hätte, zu staunen oder zu spekulieren, sonst wäre aus diesen mysteriösen Besuchen eine Religion entstanden. Doch die Männer von Fish waren jenseits aller Religion – nicht einmal die rudimentärsten, primitivsten Sätze des christlichen Glaubens vermochten auf diesen nackten Felsen Fuß zu fassen –, und so gab es keinen Altar, keinen Priester, kein Opfer, sondern nur eine Gemeinde, die sich täglich um sieben Uhr zu einem schwachen, blutarmen Gebet an dem windschiefen Bahnhof einfand.
Der Große Bremser, den sie, wären sie dazu imstande gewesen, wohl zu ihrem himmlischen Hauptgott erhoben hätten, hatte an diesem Juniabend verfügt, dass der 7-Uhr-Zug seine menschliche (oder nichtmenschliche) Fracht in Fish abladen sollte. Um zwei Minuten nach sieben entstiegen Percy Washington und John T. Unger dem Zug, eilten unter den staunenden, gebannten, ängstlichen Blicken der zwölf Männer von Fish zu dem Einspänner, der scheinbar aus dem Nichts erschienen war, und fuhren davon.
Nach einer halben Stunde, als die Dämmerung zu Nacht geronnen war, sah der Neger auf dem Kutschbock in der Dunkelheit vor ihnen
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