Winterträume
Backsteinen. Das alles gehört uns. Vater sagt, hier sind die Vereinigten Staaten zu Ende.«
»Sind wir in Kanada?«
»Nein. Wir sind mitten in den Bergen von Montana. Aber du befindest dich auf den einzigen dreizehn Quadratkilometern amerikanischem Land, die niemals vermessen worden sind.«
»Warum nicht? Hat man es vergessen?«
»Nein«, sagte Percy grinsend, »sie haben es dreimal versucht. Beim ersten Mal hat mein Großvater eine ganze Abteilung des staatlichen Vermessungsdienstes bestochen; beim zweiten Mal hat er an den amtlichen topografischen Karten kleine Veränderungen vornehmen lassen – das hat sie fünfzehn Jahre ferngehalten. Beim letzten Mal war es schwieriger. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ihre Kompasse in das stärkste jemals künstlich erzeugte Magnetfeld geraten sind. Er hat einen vollständigen Satz leicht fehlerhafter Vermessungswerkzeuge und Theodolite herstellen und mit den Instrumenten des Vermessungstrupps vertauschen lassen, so dass dieses Land nicht erfasst wurde. Dann hat er den Fluss umgeleitet und an seinem Ufer so etwas wie eine Siedlung bauen lassen, damit die Vermesser dachten, es sei ein Dorf, das in Wirklichkeit zehn Meilen weiter das Tal hinauf steht. Es gibt nur eines, das mein Vater fürchtet«, schloss er, »das Einzige, womit man uns finden könnte.«
»Und das wäre?«
Percy senkte die Stimme zu einem Flüstern.
»Flugzeuge«, hauchte er. »Wir haben ein halbes Dutzend Flugabwehrkanonen, und bislang haben wir es immer ganz gut hingekriegt – auch wenn es ein paar Tote und viele Gefangene gegeben hat. Nicht dass das für Vater oder mich eine große Rolle spielen würde, aber Mutter und die Mädchen regen sich dann immer so auf, und es könnte ja sein, dass wir es eines Tages nicht so gut hinkriegen.«
Streifen und Fetzen aus Chinchilla, Zierwölkchen am Himmel, zogen am grünen Mond vorbei wie kostbare fernöstliche Stoffe, die einem Tatarenkhan zur Begutachtung präsentiert wurden. John stellte sich vor, es wäre heller Tag und er sähe über sich ein paar Flieger, die Flugblätter oder Werbezettel für irgendein Wundermittel abwarfen und so einen Hoffnungsschimmer in trostlose, von Bergen umschlossene Siedlungen brachten. Es schien ihm, als würde er selbst aus den Wolken hinabsehen und erspähen, was immer es in diesem Ort, auf den er sich zubewegte, zu erspähen gab. Und dann? Wurden die Piloten durch einen heimtückischen Trick verleitet zu landen, um dann, fern aller Wundermittel und Flugblätter, bis zum Jüngsten Tag eingesperrt zu werden? Oder ließ sie, sollten sie nicht in die Falle gehen, ein von einem Rauchwölkchen begleitetes Splittergeschoss auf die Erde stürzen – was Percys Mutter und Schwestern »aufregte«? John schüttelte den Kopf, und seinem Mund entschlüpfte das lautlose Gespenst eines hohlen Lachens. Welche verwegenen Unternehmungen verbargen sich hier? Welches unmoralische Vorgehen eines bizarren Krösus? Welche schrecklichen, goldenen Geheimnisse?…
Die Chinchillawolken waren nun weitergezogen, und der Nachthimmel über Montana war taghell. Der Wagen fuhr am Ufer eines stillen, mondbeschienenen Sees entlang und rollte auf seinen großen Reifen glatt über die glasierten Backsteine. Für einen Augenblick tauchten sie in Dunkelheit ein und durchquerten einen kühlen, duftenden Kiefernhain, dann öffnete sich vor ihnen eine weite Rasenfläche, und Johns Ausruf der Freude erklang gleichzeitig mit Percys lakonischer Bemerkung: »Wir sind da.«
Im Sternenlicht erhob sich am Seeufer ein ausnehmend schönes Château, erklomm in marmornem Leuchten die halbe Flanke des aufragenden Berges und verschmolz in Grazie, in vollkommener Symmetrie, in durchscheinender femininer Mattigkeit mit der dunklen Masse eines Kiefernwaldes. Die vielen Türme, die schlanken Linien der Treppengeländer, das aus Stein gemeißelte Wunder tausend gelber Fenster mit ihren Dreiecken, Rechtecken, Vielecken, die gebrochene Zartheit der sich schneidenden Bahnen von Sternenlicht und bläulichen Schatten, all das brachte Johns Geist in Schwingung wie ein Musikakkord. An einem der Türme, dem höchsten, dessen Fuß auch der dunkelste war, erzeugte eine kunstvoll an der Spitze angebrachte Beleuchtung den Eindruck einer Art schwebender Feenwelt – und während John in angenehmer Verzauberung hinaufblickte, trieb der leise, schmelzende Klang von Violinen an sein Ohr, eine Rokokomusik, die schöner war als alles, was er je gehört hatte. Gleich darauf hielt der Wagen vor
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