Winterträume
versuchte er zu donnern; er hielt inne, um nach Luft zu schnappen, und auf einmal sah er, wie der Wachhabende die Hacken zusammenschlug und sein Gewehr präsentierte. Benjamin lächelte dankbar, wenn auch verhalten, doch als er sich umsah, erstarb sein Lächeln, denn nicht ihm galt der Gehorsam des Soldaten, sondern einem ehrfurchtheischenden Colonel der Artillerie, der hoch zu Rosse näher kam.
»Colonel!«, rief Benjamin schrill.
Der Colonel kam heran, zog die Zügel an, schaute gelassen zu ihm hinab und zwinkerte ihm zu. »Na du, wessen Söhnchen bist du denn?«, fragte er freundlich.
»Verdammt noch mal, Sie sollen gleich erfahren, wessen Söhnchen ich bin!«, entgegnete Benjamin scharf. »Absitzen! Wird’s bald?!«
Der Colonel brüllte vor Lachen.
»Sie wollen den Gaul wohl selber haben, was, General?«
»Hier!«, schrie Benjamin verzweifelt. »Lesen Sie.« Und damit streckte er dem Colonel seinen Einberufungsbefehl entgegen. Der Colonel las, und seine Augen wurden immer größer. »Wo hast du das denn her?«, fragte er und versenkte das Dokument in seiner Rocktasche.
»Das hab ich von der Regierung bekommen, wie Sie bald feststellen werden!«
»Du kommst jetzt mit mir mit«, sagte der Colonel, und dabei sah er ihn so eigentümlich an. »Wir gehen erst mal zum Stab, und dort unterhalten wir uns in Ruhe weiter. Na, komm schon.« Der Colonel wendete sein Pferd, ließ es im Schritt gehen und lenkte es gemächlich zum Stabsquartier. Und Benjamin blieb nichts weiter übrig, als ihm möglichst würdevoll zu folgen und unterwegs im Stillen bittere Rache zu schwören. Doch zu dieser Rache sollte es nicht kommen. Stattdessen kam zwei Tage später sein Sohn Roscoe, erhitzt und mürrisch von der überstürzten Reise, aus Baltimore herbeigeeilt und eskortierte den weinenden General, sans uniforme, zurück nach Hause.
XI
1920 kam Roscoe Buttons erstes Kind zur Welt. Während der den Anlass begleitenden Feierlichkeiten indes hielt niemand es »der Rede wert«, etwa zu erwähnen, dass der kleine Rotzbengel von ungefähr zehn Jahren, der im Haus herumrannte und mit Zinnsoldaten und einem Miniaturzirkus spielte, der Großvater des neugeborenen Babys war.
Keiner störte sich an diesem Bürschlein, in dessen frisch-fröhlichem Gesicht doch auch ein Hauch von Traurigkeit zu erkennen war, nur Roscoe Button empfand seine Gegenwart als eine Qual. Der Ausdrucksweise seiner Generation entsprechend, betrachtete Roscoe die ganze Sache als »nicht zweckdienlich«. Damit, dass sich sein Vater weigerte, wie sechzig auszusehen, verhielt er sich aus Roscoes Sicht eben nicht wie ein »richtiger Mann von echtem Schrot und Korn« – eine Redensart, die Roscoe über alles liebte –, sondern legte ein merkwürdiges und widernatürliches Betragen an den Tag. Es trieb Roscoe buchstäblich an den Rand des Wahnsinns, darüber auch nur eine halbe Stunde lang nachzudenken. Er war durchaus der Meinung, dass man die »Lebensdrähte« frisch erhalten müsse, nur dies in einem derartigen Ausmaß zu betreiben, das war – das war – das war einfach nicht zweckdienlich. Und dabei blieb es für Roscoe.
Fünf Jahre später war sein Söhnchen alt genug, um mit dem kleinen Benjamin unter Aufsicht einer gemeinsamen Amme kindliche Spiele zu spielen. Roscoe brachte die beiden am selben Tag in den Kindergarten, und für Benjamin war es die faszinierendste Sache der Welt, aus schmalen Streifen von buntem Papier kleine Matten zu flechten und Ketten zu basteln und allerlei seltsame und schöne Muster damit zu machen. Wenn er einmal ungezogen war und in der Ecke stehen musste, weinte er, meistens aber waren es fröhliche Stunden, die er in jenem heiteren Zimmer verbrachte, wo die Sonne zum Fenster hereinschien und ihm Miss Bailey hin und wieder für einen Augenblick liebevoll mit ihrer Hand durch das zerzauste Haar fuhr.
Nach einem Jahr rückte Roscoes Sohn in die erste Klasse auf, Benjamin aber blieb im Kindergarten. Er war sehr glücklich. Nur hin und wieder, wenn die anderen Knirpse sich darüber unterhielten, was sie später, wenn sie groß wären, einmal werden wollten, huschte ein Schatten über sein kleines Gesicht, als dämmerte ihm irgendwie, auf eine kindlich-verschwommene Weise, dass er an diesen Dingen niemals Anteil haben würde.
In eintöniger Zufriedenheit flogen die Tage dahin. Er ging nun schon das dritte Jahr wieder in den Kindergarten, doch unterdessen war er zu klein, um zu verstehen, was es mit den leuchtend bunten
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