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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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erzählen.
    I
     
    Am ersten Mai 1919 um neun Uhr in der Frühe erschien ein junger Mann im Hotel Biltmore und fragte an der Rezeption nach, ob Mr. Philip Dean dort abgestiegen sei; falls ja, ob man ihn dann wohl bitte mit der Suite von Mr. Dean verbinden könne. Bekleidet war der Frager mit einem gutsitzenden, aber abgetragenen Anzug. Er war klein und hager und sah nicht schlecht aus, wenn auch etwas finster; die Augen waren oben von ungewöhnlich langen Wimpern gesäumt und unten von bläulichen Ringen, die auf eine angeschlagene Gesundheit hindeuteten und deren Wirkung noch verstärkt wurde durch das unnatürliche Glühen seines Teints, dessenthalben sein Gesicht den Eindruck machte, als ob er ständig leichtes Fieber habe.
    Mr. Dean war in der Tat dort abgestiegen. Man dirigierte den jungen Mann zu einem Telefon, das abseits stand.
    Wenige Sekunden später war die Verbindung hergestellt; verschlafen fragte eine Stimme von irgendwo oben: »Hallo?«
    »Mr. Dean?« Und dann mit großem Eifer: »Phil? Hier ist Gordon. Gordon Sterrett. Ich bin unten in der Halle. Ich hab gehört, du bist in New York, und irgendwie hab ich geahnt, dass du hier absteigst.«
    Die verschlafene Stimme wurde allmählich munter. Ja, wie’s denn seinem alten Spezi Gordy gehe! Nein, so eine Überraschung aber auch, das sei ja eine Riesenfreude! Gordy solle doch um Himmels willen augenblicklich raufkommen!
    Ein paar Minuten später öffnete Philip Dean in einem Pyjama aus blauer Seide seine Tür, und die zwei jungen Männer begrüßten sich mit leicht verlegenem Überschwang. Beide waren etwa vierundzwanzig, und beide hatten in dem Jahr, bevor der Krieg ausbrach, in Yale ihr Examen abgelegt, hier aber hörten ihre Ähnlichkeiten auch schon auf. Dean war blond, rotbackig und strotzte unter seinem dünnen Schlafanzug vor Kraft. Ein durchtrainierter Bursche, der sich sichtlich wohl fühlte in seiner Haut. Wenn er lächelte, was er häufig tat, bleckte er seine großen, vorstehenden Zähne.
    »Ich hab eh vorgehabt, bei dir vorbeizuschauen«, rief er ganz begeistert. »Ich hab mir ein paar Wochen freigenommen. Setz dich doch einen Moment, ich bin gleich wieder da. Will bloß noch schnell unter die Dusche.«
    Damit verschwand er in der Badestube, indes sich sein Besucher mit unstet umherschweifendem Blick im Zimmer umsah, kurz die große englische Reisetasche in der Ecke musterte und dann all die reinseidenen Hemden betrachtete, die scharenweise zwischen eindrucksvoll gemusterten Krawatten und weichen Wollsocken über sämtliche Stühle verstreut waren.
    Gordon erhob sich, nahm eines der Hemden zur Hand und sah es sich gründlich an. Es war aus schwerer Seide, gelb, mit blaßblauen Streifen – und es gab beinah ein Dutzend seiner Art. Unwillkürlich fiel sein Blick auf seine eigenen Hemdmanschetten – verschlissen waren sie, ausgefranst und schmutzig grau. Er legte das Seidenhemd wieder hin und zog seine abgewetzten Manschetten so weit hoch und die Ärmel seines Rocks so weit herunter, dass Letztere die Ersteren verbargen. Dann trat er vor den Spiegel und schaute sich zwar aufmerksam, doch lust- und freudlos darin an. Seine einst so prachtvolle Krawatte war mittlerweile speckig und verschossen und taugte nicht mal mehr dazu, die ausgerissenen Knopflöcher am Kragen seines Hemdes zu verstecken. Ausgesprochen missvergnügt erinnerte er sich daran, wie er vor drei Jahren am College kurz vor der Abschlussprüfung an der Wahl zum bestgekleideten Mann seines Semesters teilgenommen hatte und dabei durchaus die eine oder andere Stimme auf sich hatte vereinen können.
    Dean, noch dabei, seinem Leib den letzten Schliff zu verpassen, kam aus dem Badezimmer zurück.
    »Hab gestern Abend eine alten Freundin von dir getroffen«, bemerkte er. »Bin in der Halle mit ihr zusammengestoßen und kam doch ums Verrecken nicht auf ihren Namen. Diese Kleine, die du damals im letzten Semester nach New Haven mitgebracht hast.«
    Gordon zuckte zusammen.
    »Edith Bradin? Meinst du die?«
    »Genau die. Sieht verdammt gut aus. Immer noch so ’n hübsches Püppchen – weißt schon, so eine, wo man sich nicht traut, sie anzufassen, vor lauter Angst, man könnt sie schmutzig machen.«
    Selbstzufrieden begutachtete er seine glänzende Erscheinung im Spiegel und lächelte sich rasch zu, wobei er einen Teil seines Gebisses entblößte.
    »Na, die muss jedenfalls inzwischen auch so zirka dreiundzwanzig sein«, fuhr er fort.
    »Zweiundzwanzig, letzten Monat«, sagte Gordon

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