Winterträume
Achtern hatten die Schwarzen wieder angefangen zu singen, und der kühle, taufrische See ließ ihre tiefen Stimmen fröhlich widerhallen.
»Ardita«, sagte Carlyle zögernd.
Sie schwebte einen Schritt auf ihn zu.
»Ardita«, wiederholte er atemlos, »ich muss dir etwas – etwas sagen – muss ich dir – die Wahrheit. Das war nämlich alles ein ausgemachter Schwindel, Ardita. Ich heiße gar nicht Carlyle. In Wirklichkeit heiße ich Moreland, Toby Moreland. Die ganze Geschichte war frei erfunden – aus der Luft gegriffen, aus der dünnen Luft von Florida.«
Sie starrte ihn an, in ihrer Miene wallten abwechselnd Bestürzung, ungläubiges Erstaunen und Wut auf. Die drei Männer hielten den Atem an. Moreland senior ging einen Schritt auf sie zu; Mr. Farnams Unterlippe klappte leicht herunter, während er, starr vor Entsetzen, auf das Donnerwetter wartete.
Doch es blieb aus. Stattdessen begann Ardita plötzlich übers ganze Gesicht zu strahlen, sie lachte leise, und dann trat sie rasch auf den jungen Moreland zu und blickte zu ihm empor, und in ihren grauen Augen war keine Spur von Zorn.
»Kannst du mir schwören«, sagte sie leise, »dass du dir das alles ganz alleine ausgedacht hast?«
»Ich schwöre es«, sagte der junge Moreland beflissen.
Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und gab ihm einen zärtlichen Kuss.
»Was für eine Phantasie!«, sagte sie leise und beinahe neidisch. »Ich möchte, dass du mich mein ganzes Leben lang so süß belügst; du weißt schon, was ich meine.«
Schläfrig wehten die Stimmen der Neger herüber und verschmolzen zu einer Weise, die Ardita sie schon einmal hatte singen hören.
»’n Dieb ist die Zeit;
Freude und Leid
Welkt und erbleicht
Und wird gelb – oh.«
»Und was war nun in diesen Beuteln drin«, fragte sie sanft.
»Florida-Schlamm«, erwiderte er. »Das war eins von den beiden Dingen, die nicht gelogen waren.«
»Das andere kann ich ja vielleicht erraten«, sagte sie; und dann stellte sie sich zur Veranschaulichung ihrer Worte auf die Zehenspitzen und gab ihm einen zärtlichen Kuss.
Erster Mai
Ein Krieg war geführt und gewonnen worden, über der großen Stadt des Siegervolkes wölbten sich Triumphbögen, und ein bunter Regen aus weißen, roten und rosafarbenen Blumen belebte ihren Anblick. Einen langen Frühlingstag nach dem anderen marschierten die heimkehrenden Soldaten zum stampfenden Rhythmus der Trommeln und zu den fröhlich schallenden Weisen der Blaskapellen die Hauptstraße entlang, und die Kaufleute und Kanzleischreiber vergaßen das Gefeilsche und die Pfennigfuchserei und belagerten in dichten Scharen die Fenster, die aneinandergedrängten Bleichgesichter in feierlichem Ernst den Bataillonen zugewandt, die dort vorüberzogen.
Nie zuvor war die große Stadt in solchen Glanz getaucht gewesen, denn der gewonnene Krieg hatte Reichtum in seinem Gefolge, und von Süden und Westen waren die Kaufleute mit ihren Familien herbeigeeilt, um teilzuhaben an all den köstlichen Banketten und all die ausschweifenden Lustbarkeiten zu erleben – und um ihren Frauen Pelze für den nächsten Winter zu kaufen und goldgewirkte Handtäschchen und farbenprächtige Pantöffelchen aus Seide und Silber und rosa Satin und Goldbrokat.
So heiter und in höchsten Tönen besangen die Skribenten und Poeten des Siegervolks den Frieden und den nun verheißenen Wohlstand, dass immer mehr gutbetuchte Herrschaften aus den Provinzen herbeigeeilt kamen, um den Wein des Überschwangs zu trinken, und die Kaufleute ihre Kinkerlitzchen und Pantöffelchen immer schneller loswurden, bis sie endlich lauthals nach mehr Kinkerlitzchen und mehr Pantöffelchen riefen, auf dass sie die gewünschte Ware auch weiterhin verschachern könnten. Einige warfen gar hilflos die Arme in die Luft und schrien:
»O weh! Alle Pantöffelchen sind ausverkauft! und o weh! Alle Kinkerlitzchen – ausverkauft! Himmel hilf, was mach ich bloß?«
Doch niemand achtete auf ihren mächtigen Aufschrei, denn die Menge war viel zu beschäftigt – Tag für Tag schritten die Fußsoldaten beschwingt die Hauptstraße hinauf, und alles jubelte, denn die Jünglinge, die aus dem Feld heimkamen, waren rein und kühn, mit kräftigem Gebiss und frischen Wangen, und die jungen Mädchen des Landes waren jungfräulich und hübsch von Angesicht wie von Gestalt.
Und so begab sich in der großen Stadt in all der Zeit so manches Abenteuer, und einige davon – vielleicht auch nur ein einziges – wollen wir hier
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