Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen«, warnte Mordyn.
»Ja, natürlich.« Gryvan wischte Mordyns Einwand mit einer lässigen Handbewegung beiseite, wie eine lästige, aber harmlose Fliege. »Jetzt noch nicht, ich weiß. Jetzt noch nicht. Aber wir müssen vorausdenken, oder? Ihr predigt mir doch immer, dass unser Ruhm von morgen auf unserem Handeln von heute beruht.«
»Allerdings.«
»Es ist wichtig, dass die Ereignisse in Kolkyre und im Glas-Tal einen für uns günstigen Verlauf nehmen, sobald die Glaubenskrieger vom Schwarzen Pfad vertrieben sind.«
Mordyn harrte geduldig der Ereignisse, die da kommen sollten. Es war offensichtlich, dass der Hoch-Than in seiner plumpen Art den Boden für einen Vorschlag – besser, einen Befehl – bereitete, der seiner Schattenhand nicht schmecken würde.
»Ich hatte mir Folgendes gedacht«, sagte Gryvan und beugte sich wie ein Verschwörer vor. »Ihr solltet Aewult nach Kolkyre begleiten. Als erfahrener, wertvoller Ratgeber.«
Jeder andere als der Kanzler hätte in diesem Augenblick zumindest eine Spur von Bestürzung gezeigt. Der Titelerbe war der Letzte, mit dem er freiwillig mehr Zeit als unbedingt nötig verbrachte. Außerdem hielt er es für mehr als anstrengend, dem jungen Mann auf Schritt und Tritt zu folgen und möglichst unauffällig seine Fehler auszubügeln. Blitzschnell ging der Kanzler die Möglichkeiten durch, die er hatte. Es waren nur zwei, und eine innere Stimme sagte ihm, dass die erste – den Hoch-Than umzustimmen – nicht in Frage kam. Also entschied er sich schweren Herzens für die zweite.
»Nun gut«, sagte er. »Ich werde dem Titelerben meine Unterstützung anbieten.«
»Großartig.« Der Than der Thane schien über Mordyns Zustimmung ehrlich erfreut, vielleicht sogar angenehm überrascht. »Ich weiß, Mordyn, Ihr habt Eure Schwierigkeiten mit Aewult. Das ist nicht Eure Schuld. Mein Sohn handelt oft voreilig und gedankenlos. Er kann sogar ein wenig ruppig sein. Aber er wird mir als Than nachfolgen, so sicher, wie ein junger Bock eines Tages den Platzhirsch verdrängt. Bis dahin hat er noch viel zu lernen, und ich kann mir keinen besseren Lehrmeister vorstellen als Euch.«
»Ich brauche noch eine gewisse Zeit, um hier alles zu ordnen.« Die Schattenhand deutete eine Verbeugung an. »Und um meine Gemahlin zu beschwichtigen.«
Tara war sicher nicht erfreut, und er fürchtete ihr Missfallen. Sie würde ihn nicht begleiten – sie liebte die Annehmlichkeiten ihres Palasts zu sehr, um ihn gegen das winterliche Kolkyre einzutauschen – aber seine Abwesenheiten bereiteten ihr mit jedem Jahr mehr Kummer. Auch er empfand die Trennung von ihr als schmerzlich. In jüngeren Jahren hätte er sich abschätzig über solche Gefühlsduseleien geäußert, denn die Heirat war von beiden Seiten mit einem gewissen Eigennutz geschlossen worden. Aber unmerklich hatte sich eine starke Bindung zwischen ihnen entwickelt. Sie war fast gestorben, als sie das zweite Kind von ihm vor der Zeit verlor. Die Angst vor einer Zukunft ohne Tara hatte ihn damals so heftig erfasst, dass er sich den Wunsch nach einem eigenen Sohn für immer aus dem Kopf geschlagen und sich geschworen hatte, nie wieder das Leben der Frau aufs Spiel zu setzen, die ihm kostbarer war als jeder Besitz.
Der Hoch-Than strich mit einem Finger über die Stäbe des Vogelkäfigs. Der kleine Gefangene hüpfte auf seiner Stange näher, spreizte die Flügel und hielt das Köpfchen schräg. Nachdem er eine Weile vergeblich auf Futter gewartet hatte, begann er wieder zu singen.
»Dumm, diese Vögel«, murmelte Gryvan, doch dann zuckte er die Achseln und lächelte. »Aber meine Gemahlin mag sie nun einmal. Wir sind alle die Sklaven derer, die wir lieben.«
Am Vorabend seiner Abreise befand sich Mordyn in seinem Studierzimmer und ging Berichte seiner Zuträger am Hof von Ranal oc Ayth-Haig in Dun Aygll durch, als ein jungen Diener klopfte und eintrat.
»Was gibt es?«, fragte Mordyn ungnädig.
»Draußen steht eine Botin, Mylord«, entgegnete der junge Mann mit einer Verbeugung. »Eine Frau, die wir hier noch nie gesehen haben. Sie lässt sich nicht abweisen, sondern beharrt darauf, mit Euch persönlich zu sprechen. Wir haben sie in die Wachstube gebracht. Sie ist … unrein.«
»Ich bin nicht in der Stimmung, Botschaften zu empfangen. Schick sie weg.«
»Jawohl, Herr. Sie … sie war allerdings überzeugt davon, dass Ihr sie anhören würdet. Sie erklärte, dass sie eine Botschaft für den Bittsteller
Weitere Kostenlose Bücher