Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
schwenkte, dass das Geschirr durch die Gegend flog. Die mit Speis und Trank bekleckerten Besucher protestierten lachend, als Bair mit einer Grätsche vor der Hohen Tafel zu Boden sprang. Orisian musste unwillkürlich lachen, als er die leuchtenden Augen des Stalljungen sah. Anyara bewarf den Winterkönig mit einem Brotkanten und tat, als wolle sie ihm als Nächstes den Inhalt ihres Kelchs ins Gesicht schütten, doch da erhob sich Kennet und beugte sich über den breiten Tisch nach vorn. Bair, dessen Augen immer noch vergnügt blitzten, trat einen Schritt vor und neigte den Kopf, damit der Herr von Kolglas ihn leichter erreichen konnte. Kennet legte eine Hand auf die Schulter des Jungen und nahm ihm mit der anderen vorsichtig die grüne Krone aus dem schweißfeuchten Haar. Dann drehte sich Bair um, und Kennet streifte ihm den Umhang aus Tannenzweigen von den Schultern. Er faltete ihn und legte ihn zusammen mit dem Kranz aus Stechpalmen- und Mistelzweigen auf den Tisch. Bair flitzte davon. Der Winterkönig war verschwunden.
Kennet hob die Arme. »Verbrennt die Gewänder des Winterkönigs!«, rief er mit lauter Stimme. Einer seiner Leibwächter, der in der Nähe der Hohen Tafel saß, sprang von seinem Platz auf. Er nahm Umhang und Krone im Empfang, trug sie feierlich zum großen Kamin, in dem das Feuer loderte. Dort blieb er stehen und wandte sich zu Kennet um.
»Verbrennt sie!«, kam noch einmal der Befehl, und alle Anwesenden wiederholten ihn. Orisian jubelte mit den anderen, als der Mann seine Bürde ins Feuer warf. Der Umhang zischte, und beißender Qualm stieg auf, aber das Feuer war so heftig, dass es nur wenige Augenblicke dauerte, bis die Flammen wieder knisternd und prasselnd in die Höhe schossen und die Gewänder des Winterkönigs verzehrten.
Das alte Spiel, noch aus den Tagen vor der Entstehung der Than-Geschlechter überliefert und in der einen oder anderen Form in sämtlichen Burgen des Glas-Tals und darüber hinaus aufgeführt, war zu Ende, und die Gäste gingen dazu über, sich wie bei jedem großen Fest angeregt zu unterhalten.
Hoch beladene Tabletts wurden hin und her geschleppt, bis Orisian völlig den Überblick verlor. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals an einem Winterfest üppiger gespeist zu haben. Die Dienstboten eilten mit hochroten Köpfen und gehetzten Blicken von der Küche in die Halle und wieder zurück. Ihr eigenes Festmahl kam später, wenn niemand im Saal mehr einen Bissen hinunterbrachte. Jetzt jedoch waren sie einer anstrengenden und zunehmend betrunkenen Horde ausgeliefert, die ständig neue Wünsche äußerte. Orisians Lider waren schwer vom Wein, und eine angenehme Wärme lag auf seinen Wangen, als er Kennet zu Inurian sagen hörte: »Es wird Zeit für die Bittsteller, mein Freund. Wenn wir noch länger warten, vermag niemand mehr klar zu denken.«
Orisian rutschte auf seinem Stuhl nach hinten und setzte sich aufrecht hin. Inurian erhob sich und nahm dicht hinter Kennet Aufstellung. Soldaten der Schildwache geleiteten eine kleine Gruppe Gäste vom anderen Ende der Halle herein. Man hatte durch das Los die Namen der Bittsteller ermittelt, die an diesem Abend vor ihren Herrn hintreten und ihn um eine Gunst bitten durften.
Der Erste, der sich der Hohen Tafel näherte, war ein hagerer kleiner Mann. Orisian kannte ihn. Lomas lebte im Randgebiet zwischen Stadt und Wald, wo er seine kleine Rinderherde im Unterholz grasen ließ. Lomas verbeugte sich vor Kennet und legte mit übertriebener Sorgfalt eine Pergamentrolle auf den Tisch, um die eine rote Kordel gewickelt war. Die Rolle war unbeschrieben; sie stellte lediglich ein Symbol für die Petition dar, die er vorbringen wollte.
»Du erbittest eine Gunst von mir?«, fragte Kennet, und Lomas bestätigte stammelnd, dass dem so sei.
»Ich will mir deinen Fall anhören und darüber urteilen. Wirst du, kraft des Treueids, den du unserem Haus geleistet hast, meine Entscheidung hinnehmen, ganz gleich, wie sie ausfällt?«
»Ja, das werde ich«, versprach der Herdenbesitzer, und Kennet nahm mit einem Nicken die Pergamentrolle entgegen.
»Dann sprich!«, forderte er Lomas auf.
Es handelte sich zur Enttäuschung der Zuhörer um eine ganz alltägliche Petition. Viel lieber hatten sie Streitfälle mit der einen oder anderen Skandalgeschichte, die dem Klatsch an den langen Winterabenden neue Nahrung gaben. Lomas beantragte, ein Jahr lang von den allgemeinen Abgaben befreit zu werden, da mehrere seiner Rinder an der Fußfäule verendet
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