Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
waren. Nachdem der Mann seine Bitte vorgetragen hatte, nickte Kennet und winkte Inurian nach vorn. Er besprach sich so leise mit seinem Na’kyrim -Ratgeber, dass ihre Worte nicht bis zu den übrigen Tischen vordrangen. Orisian dagegen verstand recht gut, was sie sagten.
»Er spricht die Wahrheit«, flüsterte Inurian. »Er hat zwar Angst, aber nur, dass er etwas falsch machen und dadurch die Aussicht auf den Erfolg seiner Sache verlieren könnte. Ich glaube nicht, dass er Euch betrügen will.«
Sicher hatte es durch alle Zeiten Fälle gegeben, in denen Untertanen einen gütigen Herrscher durch falsche Angaben dazu verleitet hatten, eine unverdiente Gunst zu gewähren. Kein einziger Bittsteller, der vor Kennet nan Lannis-Haig trat, hätte diesen Versuch gewagt, seit Inurian nach Kolglas gekommen war. Bei jeder Entscheidung stand er an Kennets Seite, und jeder, der ein Gnadengesuch vorbrachte, wusste, dass er vor dem Na’kyrim seine wahren Absichten nicht verbergen konnte.
»Nun gut«, sagte Kennet zu Lomas. »Die Abgaben sollen dir ein Jahr lang erlassen werden. Ich schlage jedoch vor, dass du dich gründlicher als bisher mit den Regeln der Rinderaufzucht befasst, denn die Fußfäule lässt sich leicht vermeiden, wenn du deinen Tieren die richtige Sorgfalt angedeihen lässt.«
Lomas, gleichermaßen beschämt wie erleichtert, bedankte sich überschwänglich, ehe er sich in den Hintergrund der Halle zurückzog. Gutmütige Pfiffe begleiteten seinen Abgang, dazu einige wohlgemeinte Ratschläge zur Hufpflege von Rindern.
Einer nach dem anderen traten die übrigen Bittsteller vor, überreichten Kennet ihre mit rotem Band umwickelten Pergamentrollen und schilderten ihr Begehren. Jedes Mal beugte sich Inurian vor und flüsterte seinem Herrn zu, was er von dem Fall hielt. Orisian, der ihn genau im Auge behielt, suchte vergeblich nach einem äußeren Zeichen seiner Kräfte. Die geheimnisvollen Talente jener, in deren Adern sowohl Huanin- wie Kyrinin-Blut floss, waren je nach Wesensart des Beobachters Anlass zu Staunen, Furcht, Neugier oder Neid. Orisian empfand in erster Linie eine starke Faszination. Gleichwohl wusste er, dass dieses Erkennen der Wahrheit der gleichen Quelle – dem sogenannten Gemeinsamen Ort – entsprang wie die furchtbaren Kräfte, die in den Jahren vor und während des Kriegs der Befleckten gewirkt hatten. Na’kyrim mit unvorstellbarer Macht hatten während jenes langen Blutvergießens Seite an Seite mit Menschen und Kyrinin gekämpft. In seinen letzten Lebensmonaten war der zum Scheitern verurteilte Aygll-König Tarcene von einem solchen Geschöpf besessen und versklavt gewesen – von Orlane Königbinder, dem grauenvollsten unter den Na’kyrim jener Zeiten. Die eigene Tochter hatte Tarcene schließlich in ihrer Verzweiflung mit einem Jagdmesser die Kehle durchgeschnitten.
Doch die Tage, da Na’kyrim Könige krönten und stürzten, waren längst vorbei. Es gab nur wenige Na’kyrim auf der Welt und keinen einzigen mit den Kräften von einst. Geblieben war die Erinnerung an ihre Taten, und so verrieten die Gesichter vieler aufmerksamer Zuschauer in der Halle von Burg Kolglas ein gewisses Unbehagen, da sie sich einbildeten, einen Hauch der düsteren Vergangenheit in Inurians liebenswerten Weissagungen zu erkennen.
Aber die Stimmung war so ausgelassen, und der Wein floss so reichlich, dass die Schatten von früher nicht lange Bestand hatten. Eine der Bittstellerinnen – Amella Tirane, deren Mann von einem Jagdausflug nicht zurückgekehrt war und die den Burgherrn unter Tränen beschwor, den Wald durchkämmen zu lassen – weckte großes Mitgefühl. Andere wiederum gaben eher Anlass zur Belustigung als zur Sorge. Im letzten Fall etwa forderte Marien, eine scharfzüngige, für ihr mürrisches Wesen bekannte Witwe, Kennet auf, in einem Streit zwischen ihr und ihren Nachbarn zu vermitteln. Ohne sich um die wachsende Heiterkeit im Saal zu kümmern, hörte Kennet sich ihre bittere Klage über so manche durchwachte Nacht an, die ihr die Geräusche aus der Hütte nebenan bescherten; Geräusche, wie sie mit dem Ernst ihrer Jahre erklärte, die Mann und Frau zwar zustanden, aber doch nicht jede Nacht und mit solcher Hingabe, dass sie anderen die wohlverdiente Ruhe raubten.
Orisian hörte nicht, welchen Rat Inurian seinem Vater gab. Kennet erklärte der Witwe, dass er ihren Kummer zwar verstehe, aber nicht gewillt sei, seinen Einfluss bis hin zum Ehebett geltend zu machen. Marien kehrte äußerst
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