Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
seine Gauklerschar durch das Hauptportal des Saals ins Freie. Die Gäste sprangen hastig auf und folgten dem Trupp, wobei mehr als ein Teller und Krug zu Bruch gingen. Inurian erhob sich langsamer. Seine Miene war verzerrt, als plagten ihn heftige Kopfschmerzen.
»Was ist mit dir?«, fragte Orisian.
Die Frage schien den Na’kyrim aus seiner Verstörung zu holen. Er blinzelte und lächelte Orisian zu.
»Ich fühle mich ein wenig … seltsam«, sagte er. »Als ob irgendetwas … in Unordnung geraten wäre. Vielleicht haben mich die Bittsteller überfordert.«
»Nun komm schon!« Als Orisian den Freund am Arm nahm und mit nach draußen zog, kam ihm deutlich zu Bewusstsein, welche starke Zuneigung er für den Na’kyrim empfand. »Sonst versäumen wir noch den Höhepunkt der Vorführung.«
»Das wäre jammerschade«, entgegnete Inurian. Aber in seiner Stimme schwang eher Besorgnis als Begeisterung mit.
Die Menge strömte durch das Portal. Aufgeregte Stimmen und Atemdampf erfüllten den engen Innenhof.
Im Süden der Burgmauer standen zwei Krieger Wache. Der Rundturm, von dem sie Ausschau hielten, bot keinen Schutz gegen die Elemente, aber die Brustwehr hielt den Nachtwind ein wenig in Schach, und sie hatten ein kleines Kohlenbecken, an dem sie sich die Hände wärmen konnten. Die Flammen beeinträchtigten ihre Nachtsicht, doch das bekümmerte sie in den Stunden der Winterwende weniger als die Sehnsucht nach Licht und Wärme.
Kurz zuvor hatte ihnen eine Magd Brot und dicke, von Fett triefende Bratenscheiben aus der Küche gebracht. Das leere Tablett stand auf dem Steinboden. Es war nicht allzu kalt droben auf dem Wall, und die Männer fühlten sich satt und zufrieden. Aus dem Innenhof vernahmen sie die Stimmen und den Beifall der Menge, als sich die Vorführung der Gaukler ins Freie verlagerte, doch ihre Aufmerksamkeit galt der Meeresbucht südlich von Kolglas. Über die Strände hinweg spähten sie zu den dunklen Umrissen bewaldeter Hänge.
Sie zuckten zusammen, als sich knarrend die Falltür öffnete. Eine Gestalt tauchte aus dem dunklen Stiegenschacht auf. Es war eine der Frauen aus der Gauklertruppe. Sie trug Lederstiefel, eine Reithose und eine dunkle Felljacke.
»Was suchst du hier?«, fragte einer Posten und streckte instinktiv die Hand nach seiner Lanze aus, die an der Brustwehr lehnte.
Ein dünnes Lächeln kräuselte die Lippen der Fremden.
»Ich will euch meine Kunst vorführen«, sagte sie mit tiefer Stimme.
Schon hatte sie Glaskugeln in den Händen, die sie aus der Substanz der Nachtluft zu formen schien. Im nächsten Moment verwob sie die Bälle zu einem Muster aus Kreisen und Spiralen. Sie fingen das gelbe Flammenlicht des Kohlenbeckens auf und formten daraus Glitzerbögen. Die Einwände der Wachtposten verstummten, während sie wie gebannt den Lichtertanz beobachteten.
Die Gauklerin trat einen Schritt näher auf sie zu. »Passt genau auf«, sagte sie leise.
»Sehr geschickt«, murmelte einer der Wachtposten. »Dennoch …«
Blitzschnell breitete sie die Arme aus. Die winzigen Klingen, die sie aus den Ärmelaufschlägen ihrer Jacke gezogen hatte, schlitzten den beiden Männern die Kehlen auf. Die gläsernen Jonglierkugeln fielen zu Boden und zerklirrten. Die Wächter sanken mit weit aufgerissenen Augen zusammen, unfähig, den Blutstrom zu stillen, der ihnen aus der Halsader schoss. Die Frau kniete nieder und vollendete ihr Werk, indem sie die beiden Messer tief in die Grube zwischen Kieferknochen und Adamsapfel stieß. Die Männer starben nahezu lautlos.
Vorsichtig erhob sich die Jongleurin und horchte in das Dunkel. Nichts rührte sich. Die Wälle von Kolglas waren nur spärlich besetzt, und die wenigen Pechvögel, die das Los getroffen hatte, in dieser Nacht Dienst zu tun, richteten ihre Blicke über die Brustwehr nach außen und vernahmen nichts außer den staunenden Ausrufen und dem Beifall aus dem Innenhof. Die Frau stieg über die sich rasch ausbreitenden Blutlachen hinweg und trat an das Kohlenbecken. Aus einer Innentasche ihrer Jacke zog sie Lederhandschuhe und streifte sie über. Ohne Zögern fasste sie mitten in die Glut und holte eine doppelte Hand voll rot glühender Kohlen heraus. Rasch spähte sie umher. Als sie sicher war, dass niemand ihr Treiben beobachtete, beugte sie sich über die Brustwehr und öffnete die Hände. Ein orangegelber Funkenregen fiel vom Turm, verblasste und versank tief unten zwischen den Felsen im Wasser.
Die Frau huschte zur Falltür, glitt in den
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