Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
warf seinen Reiter ab. Der junge Mann versuchte sich hochzurappeln, aber sein Arm hatte den Sturz nicht unbeschadet überstanden und knickte ein, als er sich aufstützte. Der Krieger zog ein Messer aus dem Stiefel und schnitt dem Boten die Kehle durch. Ohne sich um das Pferd zu kümmern, das sich mit gebrochenen Läufen am Boden wand, hob er sein Schwert auf und schlenderte durch das Burgtor.
Im Innenhof war ein wilder Tumult im Gange. Das Volk, das sich auf der Burg versammelt hatte, um das Winterfest zu feiern, floh in alle Richtungen und bemühte sich vergeblich, sich in Sicherheit zu bringen. Die Gauklertruppe und die Krieger, die nun durch das Tor hereinströmten, kämpften sich entschlossen und mit vereinten Kräften durch das Gewühl. Die Gäste und Dienstboten beachteten sie kaum, sondern räumten sie eher zur Seite wie lästiges Unterholz, das den Weg versperrt. Ihr eigentliches Ziel waren die Bewaffneten von Burg Kolglas.
Hier und da klirrten Schwerter in der Menge. Es war ein ungleiches Gefecht. Die Krieger von Lannis-Haig waren zahlreicher, aber völlig unvorbereitet und zum Teil betrunken. Und selbst wenn sie sich den Feinden stellten, war es, als kämpften sie gegen Schatten. Die Eindringlinge waren gedankenschnell, und jeder Schwertstreich gegen sie traf entweder nur Luft oder eine Abwehr, die fließend in einen tödlichen Angriff überging.
Orisian verfolgte mit ungläubigen Blicken, wie ein Krieger einen von Kennets Leibwächtern niedermetzelte. Das schwere Hemd des Mannes war im Zweikampf zerrissen und hing ihm nun in Fetzen vom Leib. Seewasser perlte ihm den muskulösen Rücken entlang, und darunter erkannte Orisian einen dunklen, bedrohlichen Umriss, der sich von den Schulterblättern bis ins Kreuz erstreckte. Eine Tätowierung – ein Rabe mit weit ausgespannten Schwingen. Orisian war wie betäubt von dem Anblick und dem logischen Schluss, der daraus folgte.
Da erhob sich irgendwo im Gewühl ein Schrei, der Orisians Gedanken Ausdruck verlieh: »Inkallim! Inkallim!«
Kennet schob sich an Orisian vorbei die Freitreppe hinunter. Ein Schwert lag in seiner Hand, und wilder Zorn blitzte in seinen Augen.
»Inkallim!«, hörte Orisian ihn rufen, als er sich in das Kampfgetümmel warf. Gleich darauf war er nicht mehr zu sehen.
Inkallim – die Raben der Gyre-Geschlechter. Sie waren die weithin gefürchteten Elitekrieger des Schwarzen Pfads, die sich mehr dem Glauben als einem Than verpflichtet fühlten. Orisian versuchte, das lähmende Entsetzen abzuschütteln. Anyara umklammerte seinen Arm mit eisernem Griff und starrte voller Entsetzen auf das blutige Schauspiel, das sich ihr bot. Mehrere Männer und Frauen – Orisian erkannte einige Händler vom Markt in Kolglas – kamen in Panik die Treppe heraufgestürmt, in der Hoffnung, Zuflucht im Wohnturm zu finden. Blindlings rannten sie auf Orisian und Anyara zu.
»So wartet doch!«, rief Orisian vergeblich. Er und seine Schwester wurden beiseite geschoben, stürzten gemeinsam die Stufen hinunter und schlugen hart auf. Anyara presste Orisian mit ihrem Gewicht gegen das Pflaster des Innenhofs, sodass er keine Luft mehr bekam. Für kurze Zeit drehte sich alles um ihn.
Irgendwo weit weg hörte er Rothes Stimme, die sich über den Kampfeslärm und das Angstgeschrei erhob. »Lannis! Lannis! Schützt euren Herrn!«
Dann richteten starke Arme Orisian auf. Er blinzelte und erkannte Kylanes Züge.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte der junge Gardesoldat.
Orisian schüttelte den Kopf. Er konnte immer noch nicht durchatmen.
»Anyara«, rief Kylane, »seid Ihr verletzt?«
»Nichts als blaue Flecken«, sagte sie und kam mühsam auf die Beine. »Sonst ist alles in Ordnung.«
Luft strömte in Orisians Lungen. Der Schwindel ließ nach.
»Wo ist mein Vater?«, keuchte er.
»Irgendwo mitten im Getümmel«, erwiderte Kylane. »Wir müssen Euch in Sicherheit bringen. Seid Ihr bewaffnet?«
Orisian spreizte die leeren Hände, und Kylane drückte ihm ein Messer in die Rechte. Als er den kühlen Griff in den Fingern spürte, schoss ihm eine neue Sorge durch den Kopf.
»Inurian, wo ist Inurian?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, erklärte Kylane. »Vergesst das jetzt. Ihr beide müsst fort von hier.«
Anyara setzte zu einem Warnschrei an, aber irgendwie spürte Kylane die Gefahr. Er warf sich herum, wich aus und zerschmetterte dem Inkallim-Krieger, der auf sie zugerannt kam, mit seinem Schwert das rechte Kniegelenk. Der Mann geriet ins Straucheln. Kylane stieß
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