Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
ihm die Klinge in den Nacken und zog sie wieder heraus. Dann drehte er sich nach Orisian und Anyara um.
»Bleibt dicht hinter mir! Wir verstecken uns im Wohnturm.«
Sie nickten.
Kylane führte sie zur Treppe. Erst jetzt drang das Grauen, das die Burg befallen hatte, voll in ihr Bewusstsein durch. Der Innenhof war mit Leichen übersät. Unbewaffnete Bürger lagen tot neben Kriegern. Dunkles Blut füllte die Ritzen des Kopfsteinpflasters. Vor den Schlafräumen der Burgwache umringten Inkallim eine Gruppe von Lannis-Kämpfern. Unter dem Torbogen standen fünf Inkallim. Während die einen ungerührt das Gemetzel im Hof beobachteten, spähten die anderen zum Damm hinüber. Zur Linken, am entfernten Ende des Hofs, wogte ein erbitterter Kampf hin und her. Mit stockendem Atem sah Orisian, wie sein Vater, Rothe und ein halbes Dutzend Gardeleute in stummer Verzweiflung versuchten, eine gleich große Anzahl von Inkallim in Schach zu halten. Wie gebannt von dem Anblick, geriet er ins Stolpern und blieb stehen. Einer der Lannin-Krieger ging in die Knie, niedergeknüppelt von einem Gegner. Kennet erhielt einen harten Schlag gegen die Schläfe und geriet ins Schwanken. Ohne lange zu überlegen, umklammerte Orisian seinen Dolch und rannte quer über den Hof.
»Hier geblieben, Orisian!«, schrie Kylane verzweifelt von der Treppe herab.
Aber es war zu spät. Orisians Inneres tobte, und seine Füße trugen ihn dem Kampfgetümmel entgegen. Zwei der Inkallim, die das Tor bewacht hatten – ein Mann und eine Frau –, lösten sich von ihren Gefährten und rannten auf ihn zu. Orisian kam mit einem Ruck zum Stehen und wandte sich um. Merkwürdig unbeteiligt erkannte er, dass er weder seinen Vater noch den Schutz des Wohnturms erreichen konnte. Die Gegner kamen näher. Der Gefechtslärm verstummte, übertönt von einem lauten Pochen in seinen Schläfen.
Kylane flog mit einem mächtigen Satz an Orisian vorbei und stellte sich zwischen ihn und die Angreifer. Dem Gardesoldaten gelang es, sein Schwert hochzureißen und den ersten Hieb zu parieren, aber der Aufprall schlug ihm die Waffe so weit nach unten, dass er die Attacke der Frau gegen seine Flanke nicht mehr abwehren konnte. In letzter Verzweiflung stieß er den linken Arm in die Schwertbahn. Die Klinge traf ihn zwischen Handgelenk und Ellbogen und durchschlug den Knochen. Kylane taumelte nach einer Seite. Sein Schwert zog eine rote Furche über die Hüfte der Kriegerin, doch sie achtete überhaupt nicht darauf. Ruhig folgte sie Kylane, als er auszuweichen versuchte, packte ihr Schwert mit beiden Händen und hieb ihm mit einem einzigen Streich den Kopf ab.
Bittere Galle brannte in Orisians Kehle, und mit einem lauten Aufschrei sprang er vorwärts. Er hörte, dass Anyara ihm vom Eingang des Wohnturms her etwas zurief. Dann warf er sich auf die Inkallim, die Kylane enthauptet hatte. Die Frau fegte ihn mit einem Rempler ihres Ellbogens zur Seite, und Orisian stürzte der Länge nach auf das Pflaster. Ein Tritt traf ihn so hart in die Magengrube, dass er in die Höhe geschleudert wurde und ein Stück durch die Luft flog. Vor seinen Augen verschwamm alles.
Er glaubte die Stimme der Frau zu hören. »Ist das der Junge?«, fragte sie.
Orisian versuchte sich aufzurichten, aber der Schmerz, der ihm durch den Brustkorb zuckte, hielt ihn am Boden fest. Seine Sicht wurde wieder klar. Ein Schwert hob sich zum Schlag.
Dann war Rothe da. Der hünenhafte Gardesoldat stürzte sich auf die beiden Inkallim, die sich von Orisian abwandten und in verschiedene Richtungen auswichen. Stöhnend vor Schmerz streckte sich Orisian und bohrte seinen Dolch mit letzter Kraft in eine Ferse. Die Klinge wurde ihm aus den Fingern gerissen, als der Krieger zurückzuckte und das Gleichgewicht verlor. Im nächsten Augenblick sprang Rothe ihn an und warf ihn ganz zu Boden. Orisian robbte näher und umklammerte den Schwertarm des gestürzten Mannes mit der verzweifelten Kraft eines Ertrinkenden, der sich an einem Ast in den Fluten festhält. Rothe parierte mit seiner Klinge einen Hieb der Frau und drückte die Spitze ihres Schwerts nach unten. In seiner Linken blitzte ein langes Messer, das er ihr zweimal bis ans Heft in den Bauch stieß. Sie brach zusammen. Gleichzeitig löste sich der zweite Inkallim aus Orisians Griff und versuchte sich hochzustemmen. Rothes Schwert sauste hinab und zerschmetterte ihm den Kieferknochen.
Rothe zerrte Orisian auf die Beine. Die Kriegerin lebte noch. Sie lag verkrümmt da, beide Hände
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