Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
dass er eins mit ihnen war.
»Seht, wie weit es mit eurem Feind gekommen ist!«, rief er. »Seht die Früchte seines Hochmuts! Er ist gebeugt durch die Stärke eurer Arme.«
Begeisterte Hochrufe brandeten auf.
»Hebt seinen Kopf«, sagte Gryvan leise zu Kale.
Kale trat vor, packte Igryn an den dichten roten Haaren und riss ihm den Kopf nach hinten, bis sein übel zugerichtetes Gesicht dem Than der Thane zugewandt war. Sein Bart war verfilzt und mit getrocknetem Blut verkrustet. An einer Seite verlief eine frische Wunde mit hässlich ausgefransten Hauträndern von der Schläfe zum Wangenknochen.
»Deine Vorfahren kamen zu meinem Großvater und erbaten seine Hilfe gegen die Truppen von Dornach, als deine Familie noch aus Räubern und Wegelagerern bestand«, sagte Gryvan. »Der Preis für diese Hilfe – euer Aufstieg von armseligen Lehnsgütlern zu einem eigenen Than-Geschlecht – war der Treueid, den sie Haig und Varmouth leisteten. Leute von weit höherem Ansehen, Häuser, deren Geschichte in eine Zeit zurückreicht, da euer Name noch Schall und Rauch war, sind sich nicht zu schade, diesen Treueid zu befolgen. Du aber hast ihn gebrochen, wolltest ihn abwerfen wie ein lästiges altes Kleidungsstück. Du bist mir die Abgaben schuldig geblieben, hast Piraten Unterschlupf gewährt und meinen Steward gefangen gesetzt. Schlimmer noch – du hast in völliger Selbstüberschätzung Söldner von Dornach in dein Heer aufgenommen und gegen mich in den Kampf geschickt. Hast du nichts zu deinen Gunsten vorzubringen, Igryn? Empfindest du keine Spur von Scham?«
Der gefangene Than verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. Blut quoll ihm aus dem Mund.
»Nein«, sagte er.
Wenn Gryvan enttäuscht war, so zeigte er es nicht. »Nun gut. Wir haben einen langen Marsch nach Varmouth vor uns. Vielleicht besinnst du dich unterwegs eines Besseren. Dann werden wir darüber reden, wer dich als Than in diesem elenden Landstrich ersetzen könnte.«
Der Hoch-Than hob sein Schwert, schob es zurück in die reich verzierte Scheide und kehrte dem Knienden den Rücken zu. Kale ließ die Haare des Mannes los, und Igryns Kopf sank nach vorn.
Gryvan winkte Kale zu sich. Er sprach so leise, dass nur der Anführer seiner Schildwache verstand, was er sagte.
»Ich will nicht, dass er stirbt. Ich brauche ihn als lebende Warnung für jene, die sich gegen meine Zügel auflehnen. Der Gedanke, dass Igryn in einem Verlies schmachtet, wird sie zumindest eine Zeit lang gefügiger machen. Da aber selbst ein Gefangener für Unruhe sorgen kann, wenn er einen gewissen Anspruch auf den Thron hat, müssen wir verhindern, dass er je wieder an die Macht kommt. Die Herrscher von einst wussten, wie man so etwas bewerkstelligt. Es wird Zeit, dass wir die Gnade der Könige wieder einführen, am besten noch heute Nacht.«
Igryn oc Dargannan-Haig wurde fortgezerrt, und unter den Versammelten breitete sich Hochstimmung aus. Taim Narran hielt die Augen gesenkt, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte. Er verspürte wenig Lust, dem Blick eines triumphierenden Haig-Kriegers zu begegnen und Gefühle vortäuschen zu müssen, die er nicht teilte. Er hatte der Demütigung des gefangenen Thans nur aus Pflichtbewusstsein beigewohnt: Es ging nicht an, dass er dem Sieg über den Rebellen fernblieb, für den so viele seiner Männer gefallen waren. Nun aber sehnte er sich nach der Einsamkeit seines Zelts oder, falls ihm das Alleinsein verwehrt blieb, nach der Nähe seiner überlebenden Kampfgefährten. Die Männer von Lannis kampierten ganz am Rand des Heerlagers und hielten sorgsam Abstand zu den weit größeren Gruppen der Haig-, Ayth- und Taral-Krieger, die den Hauptbestandteil von Gryvans Streitmacht bildeten.
Als er an einer Reihe großer Planwagen vorbeikam, wurde Taim durch eine vertraute Stimme aus seinen Gedanken gerissen. Er schaute auf und sah Roaric nan Kilkry-Haig, den Sohn des Kilkry-Thans, der mit hochrotem Kopf auf den Fuhrmeister des Wagenzugs einschimpfte. Das Opfer der Zornesausbrüche hörte ungerührt zu und zeigte sich von Roarics hoher Stellung nicht im Geringsten eingeschüchtert.
Taim seufzte. Das Ansehen der Kilkry- und Lannis-Krieger schien mit jedem Tag zu sinken. Der arme Roaric war sich dessen ebenso bewusst wie jeder andere, aber seine einzige Reaktion auf den Schmerz, den dieses Wissen hervorrief, bestand darin, dass er immer verbitterter und streitsüchtiger wurde. Das bedeutete nichts Gutes für die Zukunft.
»Roaric«, sagte Taim
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