Winterwunder
Bleistiftzeichnungen gefallen mir.« Die schwarz gerahmten Bilder an der Wand zeigten wundervoll detaillierte Straßenszenen.
»Ja, sie sind ganz okay.«
Sie trat einen Schritt näher heran, spähte nach der Signatur in der unteren Ecke. »Kavanaugh.«
»Mein Vater hat sie gemacht.«
»Sie sind wunderschön, Malcolm. Damit hast du was richtig Schönes von ihm. Kannst du zeichnen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.« Sie drehte sich um, lächelte ihn an.
»Bleib.«
»Ich habe eine Übernachtungstasche im Kofferraum.« Sie öffnete ihre Handtasche, holte die Schlüssel heraus. »Wenn es dir nichts ausmacht?«
Er nahm die Schlüssel, klimperte damit, während er Parker musterte. »Wo ist dein Handy?«
»In meiner Handtasche. Ich habe es vor dem Essen ausgeschaltet.«
Malcolm beugte sich herab, um sie zu küssen. »Beantworte deine Anrufe, und mach es dann wieder aus. Ich hol deine Tasche.«
Als er hinausging, zog sie ihr Handy aus der Tasche, nahm sich jedoch zuerst noch einen Augenblick Zeit, um Mals Wohnung anzuschauen.
Geordnet und effizient, dachte sie erneut, und sehr sparsam eingerichtet. Die Bleibe eines Mannes, der es gewohnt ist, weiterzuziehen, ohne große Umstände zu machen.
Flache Wurzeln, sinnierte sie, und ihre waren so, so tief.
Sie war sich nicht sicher, überhaupt nicht, was das bedeutete.
Sie schob den Gedanken von sich, stellte das Handy an und begann, sich durch SMS und Mailboxnachrichten zu arbeiten.
16
Malcolm traf erst einige Zeit nach der Polizei, der Feuerwehr und den Sanitätern am Unfallort ein. Wegen des kalten, leichten Nieselregens zerrte er die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf, als er auf das gelbe Absperrband und die zuckenden Blinklichter zuging.
Die Toten hatten sie schon weggeschafft – er hatte keinen Zweifel daran, dass es Tote gegeben hatte, als er den zusammengestauchten und verdrehten Haufen Blech sah, der einmal ein BMW gewesen war.
Den zweiten Wagen hatte es auch übel erwischt, doch er konnte wahrscheinlich geborgen und wiederhergestellt werden. Wer auch immer in dem Lexus gesessen hatte, müsste mit etwas Glück noch geatmet haben, als er von dem Wagen weglief, weghumpelte oder fortgetragen wurde.
Sein Job war es, abzuschleppen, was noch übrig war.
Auf der vom unaufhörlichen Nieselregen schlüpfrigen Straße leuchteten die Scheinwerfer des Polizeiwagens durch die ziehenden Nebelschwaden auf glitzernde Scherben von Sicherheitsglas, auf Bremsspuren, verbogenen, rußgeschwärzten Chrom, auf Blut und – schrecklicher noch – auf einen einzelnen Schuh, der noch nicht vom Straßenrand weggeräumt worden war. Das Bild brannte sich in Mals Gedächtnis ein, ein Bild der Angst, des Schmerzes und des schrecklichen Verlusts.
Das Team, das den Unfallhergang rekonstruierte, war bereits an der Arbeit, doch er konnte sich selbst zusammenreimen, was geschehen war.
Nasse Straße, leichter Nebel. Der BMW, der zu schnell fährt, gerät ins Schleudern, rutscht, der Fahrer verliert die Kontrolle über den Wagen, überquert die Mittellinie, rammt den Lexus. Fliegt durch die Luft, dreht sich, knallt auf, überschlägt sich zwei–, vielleicht dreimal.
Ja, in Anbetracht des Gewichts, der Geschwindigkeit, der Winkel vermutlich dreimal.
Irgendjemand fliegt durch die Windschutzscheibe – wahrscheinlich ein Mitfahrer auf dem Rücksitz des lädierten M6, der nicht angeschnallt gewesen war. Falls vorne ein Beifahrer gesessen hatte, so war er oder sie zerquetscht worden. Dem Fahrer war es nicht besser ergangen.
Mal konnte sehen, dass die Feuerwehrleute den BMW aufgeschnitten und dabei die Rettungsschere wie einen Dosenöffner benutzt hatten, doch die Chancen, dass sie aus diesem Wrack noch jemanden lebend geborgen hatten, waren gleich null.
Die Bilder von seinem Wagen, die er nach seinem Totalschaden angeschaut hatte, tauchten plötzlich wieder vor ihm auf. Das Wrack hatte nicht viel besser ausgesehen als dieser M6. Allerdings waren Stunt-Autos extra für Crashs gebaut, so dass der Fahrer beim Aufprall darin geschützt war – es sei denn, irgendjemand weiter oben in der Hierarchie entschied, hier und da was abzuknapsen und ein paar Dollar zu sparen.
Mal hoffte, dass die Insassen vor dem Aufprall und dem Überschlagen bewusstlos oder tot gewesen waren.
Bei ihm war das nicht der Fall gewesen. Und er hatte alles gespürt, die grausamen Schmerzen, das brutale Zerreißen und Zerbrechen. Hatte alles gespürt, bevor es um ihn schwarz geworden war. Wenn er es zuließ, spürte
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