Wir Ausgebrannten
Charme. Das Fatale an all diesen Entspannungsangeboten ist, dass sie den Narzissmus eher fördern als einfrieden. Denn all diese Relaxationen gönnt sich der Gestresste zumeist allein, das heißt ohne einen Bezug zu anderen. Die soziale Handlung fehlt in diesen Druckabbaugeschichten, und damit findet sich der Ausbrennende letztlich auf sich selbst gestellt wieder und er demonstriert gleichzeitig seine berufliche Unabkömmlichkeit wie seine körperliche Fitness.
Wenn wir von spirituell berufener Seite schon kaum Hinweise bekommen, wie wir zu leben haben – die Gesundheitsindustrie nimmt uns gerne an die Hand. Sie erklärt uns, dass wir möglichst alles dafür tun müssen, um lange und gesund zu leben, und rechnet uns vor, welchen Ertrag an Lebenszeit wir zu erwarten haben, wenn wir auf bestimmte Dinge verzichten. Die Gesundheit ist der oberste Primat, und wer in dieses Credo nicht einstimmt, ist verdächtig. Vermutlich kommt die Gesundheitsdiktatur aus den USA, wo man seit einigen Jahren einerseits kräftig dabei ist, das Sterben mittels ausgewogener Ernährung abzuschaffen, andererseits an der Idee, verurteilte Mörder mit der Giftspritze aus der Gemeinschaft der Gesunden zu komplimentieren, immer noch Gefallen findet. Der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg ist einer jener radikalen Gesundheitsbefehlshaber. Er hat zum Beispiel die Order ausgegeben, dass sämtliche Fleischauslagen in den Metzgereien der Stadt mit ihrem jeweiligen Fettgehalt gekennzeichnet werden. Wem da nicht der Appetit und die Lust am Essen insgesamt vergeht, muss ein besonders hartgesottener Zeitgenosse sein. In den Parks darf nicht mehr geraucht werden – wohlgemerkt unter freiem Himmel, wo eigentlich nur Vögel und Eichhörnchen Gefahr laufen, ein Bronchialkarzinom infolge Passivrauchens zu bekommen. Immerhin ist die Anzahl der Raucher in New York innerhalb von sieben Jahren um acht Prozent gesunken. Was ja kein Wunder ist, schließlich kann man sich nirgendwo mehr eine Zigarette anzünden. Wenn der Bürgermeister die Einstellung der Atemtätigkeit forderte, würden ja auch sämtliche Einwohner New Yorks sterben.
Natürlich ist der Reglementierungs- und Gesundheitswahn schon längst nach Deutschland eingewandert, wir werden später noch ausführlich darauf zu sprechen kommen.
Die Fetischisierung der Gesundheit und der verbissene Kampf um ihre Erhaltung gehen vermutlich mit dem Verlust der spirituellen Trostangebote einher. Wenn wir nicht mehr an den lieben Gott und seine Allmacht glauben können, müssen wir an den Arzt und sein Versprechen glauben, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um uns länger am Leben zu halten. Wir sind gezwungen, das ewige Leben leider schon im Diesseits anzutreten, weil wir hinterher keine Möglichkeit mehr sehen, unsere Seele baumeln zu lassen. Die Gesundheitsindustrie ist auch allzeit bereit, uns in unseren krankhaften Bemühungen, gesund zu bleiben, größtmögliche Schützenhilfe zu geben. Sie bietet uns Krankheiten an, die es eigentlich gar nicht geben müsste und unter denen wir vermutlich nicht leiden würden, wenn wir von ihnen keinen Begriff hätten. Aber weil die Gesundheitsindustrie zu diesen erfundenen oder halb erfundenen Krankheiten gleich den Heilungsschlüssel mitliefert, nehmen wir das Angebot gerne an. Die All-inclusive-Idee, eines der schönsten Heilsversprechen der letzten Jahre, überzeugt uns immer wieder aufs Neue, denn eine Krankheit samt mitgelieferter Therapie ist ein verlockendes Angebot. Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom nehmen wir als Diagnose-Geschenk gerne schon mal für unsere Kinder mit nach Hause, damit die sich früh genug daran gewöhnen können, dass es für jedes Abweichen von der Norm ein probates Krankheitsbild gibt. Und die entsprechenden Medikamente dazu. Die Gesundheit ist inzwischen erste Bürgerpflicht geworden. Wir haben uns gefälligst alle so zu verhalten, zu ernähren und zusammenzureißen, dass wir möglichst lange leben, und das bitte auch noch im Vollbesitz unserer geistigen und körperlichen Kräfte. Es ist grauenhaft, wie wenig wir uns noch trauen, dekadent und weltverachtend zu sein. Kein Gedanke mehr daran, dass wir in einer ziemlich absehbaren Zeit tot und steif im Sarg liegen und bald darauf kein Hahn mehr nach uns kräht. Statt uns ständig von irgendwelchen Life-Balance-Predigern den Puls messen zu lassen, sollten wir uns als Gegengift zu unseren Optimierungsfantasien einen Nachmittag in der Alten Pinakothek in München gönnen und uns anhand
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