Wir Ausgebrannten
oder sich das, was man in einem bestimmten philosophischen Weltbild als reizvolles Sinnangebot empfindet, herauspicken. Oder man entscheidet sich für die nächstliegende und vermutlich am einfachsten zu bewerkstelligende Sinnschöpfung, den Ausweg aus der Ich-Falle, und geht dreimal die Woche mit Freunden ein Bier trinken, das wäre auch nicht der dümmste Einfall.
Aber wir Ausgebrannten möchten den einfachen Weg gar nicht gehen. Wir haben uns darauf versteift, obsessive Innenschau zu betreiben, und benehmen uns wie vom internationalen Geschäft abgekoppelte Staaten, die ihre Erträge nur nach innen ausrichten. In der Ökonomie nennt man dieses System »self-reliance« und meint damit eine eher unproduktive Eigenständigkeit, welche die Teilhabe der anderen weitgehend ausschließt. »Die Frage ›Was fühle ich?‹ wird zur wahrhaften Obsession«, schreibt der amerikanische Soziologe Richard Sennett, und genau von dieser Obsession lebt der Burnout-Mythos. Wir tasten ständig unsere Seele ab und wenn wir ein Knötchen entdeckt haben, brechen wir zusammen. Was wir mit diesem Fetisch betreiben, ist ein Narzissmus, bei dem die Eigenliebe mehr und mehr durch den Wunsch nach Kontrolle ersetzt wird. So wie uns das Internet kontrolliert, so wie der Chef uns mit seinen restriktiven Arbeitszeiten beutelt, so kontrollieren und beuteln wir uns selbst mit unserer permanenten Ich-Besichtigung. Wir sind auf der Suche nach Authentizität, ein Wort, das wir inzwischen so selbstverständlich benutzen wie Coffee to go. Aber wir finden nur eine unendliche Leere, die uns unendlich müde macht. Und das ist kein Wunder, wenn man unsere Sinn-Schnüffelei nur einmal menschheitsgeschichtlich betrachten würde. Kein Mann, keine Frau des Mittelalters, der Renaissance, der Aufklärung oder des Bürgertums wäre auf die Idee gekommen, einen Sinn aus sich selbst zu schöpfen. Sinnstiftung war immer ein Akt der Gemeinschaft. Nur im Wechselspiel mit anderen konnte man sein eigenes Leben als sinnreich betrachten, schließlich ist es ja dazu da, das Wohl der Gemeinschaft mitzugestalten. Das ist die Grundidee jedes Staates. Wie es aber aussieht, sind die meisten es inzwischen sogar müde, sich mit dem Staat und seinen Begleiterscheinungen auseinanderzusetzen. Kräftige politische Verwerfungen wie die gegenwärtige Schulden- und Finanzkrise in Europa scheinen zwar viele Deutsche zur Kenntnis zu nehmen, sie sind ihnen aber offensichtlich gleichgültig. Affären um Politiker werden bestenfalls kopfschüttelnd begleitet, ein besonderer Zorn oder auch nur eine markante moralische Wertung bleibt jedoch aus. Das wird alles den Zeitungen und Fernsehsendern überlassen. Die gewaltige Krise, die sich in der Welt Tag für Tag zeigt und immer größer und schwieriger zu bestehen wird – im zivilisatorischen Nahbereich ist sie nicht angekommen. Oder sie wird im Handumdrehen umgemünzt in persönliche Krisen. Der große Crash, so könnte man glauben, findet inzwischen nicht mehr auf den Finanzmärkten, in den Banken und auf dem Börsenparkett statt, sondern in den Innenwelten der Leistungsträger unserer Tage.
Mag sein, dass der Sinnverlust einhergeht mit dem allmählichen Abdanken der Kirchen und ihrer spirituellen Angebote. Der kluge und witzige englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton schreibt in seinem Essay Der Sinn des Lebens : »Was den Glauben angeht, reist die Postmoderne lieber mit leichtem Gepäck. Sie glaubt so manches, doch sie hat keinen Glauben.« Das ist ein Schlüsselsatz für das Verständnis unserer Sinnmüdigkeit. Was die großen Religionsgemeinschaften nicht mehr so recht leisten können, übernehmen nun die Servicedienstleister.
UNSER SCHÖNER NEUER KRANKHEITSKATALOG
Am schnellsten und wirksamsten haben deshalb auch die Gesundheitspolitik und die an sie gekoppelte Industrie von unseren ausgeschöpften Sinnressourcen und der damit einhergehenden großen Müdigkeit Wind bekommen. Sie brüllt uns ihren krank machenden Entspann-dich-Befehl in die Ohren und flankiert diesen mit entsprechenden therapeutischen Angeboten. Nach jeder psychischen Verwerfung können wir uns mit Medikamenten neu einstellen lassen, das ist vermutlich leichter, als sich selbst mühselig eine Einstellung zum Leben zu erarbeiten. Wir entspannen uns bis zum Umfallen. Wenn wir joggen gehen, tragen wir noch zwei Hanteln in den Händen, und das Smartphone haben wir auch in der Jogginghose, denn die Kombination aus Sport und Arbeit hat einen ganz besonders eleganten
Weitere Kostenlose Bücher