Wir Ertrunkenen
Bauern-Sofus ließ das Grinsen, das sich über Sparkassendirektor Rudolf Østermanns Gesicht ausbreiten wollte, gefrieren.
Der Direktor war eigentlich ein humoriger Mann, der gerade hatte fragen wollen, ob man denn mittels Telegraf auch mit dem Herrgott in Verbindung treten könne.
Er war seither der Eifrigste der Bekehrten.
«Die Telegrafenstation ist das Herz der Stadt, ein reiner Segen. Sie müsste in der Kirche stehen», erklärte er später immer. Er hatte den Witz, der ihm auf den Lippen gelegen hatte, als Lorentz das erste Mal über den Telegrafen sprach, vollkommen vergessen.
Nachdem erst einmal die Sparkasse und der größte Reeder der Stadt für die Sache eintraten, kamen andere Investoren dazu. Was der Staat uns nicht geben wollte, verschafften wir uns selbst.
Und es war ebenfalls Lorentz, der auf die Idee einer Seeversicherung auf Gegenseitigkeit kam, erst für die kleinen Schiffe und dann, mit unserem
allmählich wachsenden Wohlstand, auch für die großen. 1904 bekam die Seeversicherung ihr eigenes Gebäude an der Ecke Skolegade und Havnegade. Es war ein großes, prächtiges rotes Backsteinhaus mit einem Relief an der Fassade, das einen Schoner unter vollen Segeln zeigte. Das Haus hatte die gleiche Funktion wie die Mole. Es beschützte uns.
Es gab nichts, was der Aufmerksamkeit des gründlichen und ideenreichen Lorentz entging. Er wurde Hafenvorsteher und legte die zweihundert Ellen lange Dampskibsbro an, die den Eingang zum Hafen bildete. Den Hafen und die Fahrrinne ließ er von der Reede bis zur Dampskibsbro vertiefen, und auch bei der weiß gekalkten Marstaller Molkerei mit dem hohen Schornstein in der Vestergade war er einer der Mitbegründer. Er schaffte sich ein Pferd an und ritt groß und mächtig durch die Stadt. Die eisenbeschlagenen Hufe des Pferdes klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Lorentz war der eigentliche Bauherr der Stadt, obschon die Mauer, die er um Marstal errichtete, unsichtbar blieb. Es waren all die unvorhersehbaren Unglücksfälle, von denen ein Seemannsleben so bedroht ist, vor denen er uns bewahren wollte.
Lorentz heiratete spät, und doch bekam er mit seiner zwei Jahre älteren Frau Katrine Hermansen noch drei Kinder. Der Älteste emigrierte nach Amerika, den Zweitältesten schickte er in die Lehre als Schifffahrtskaufmann nach England, und die Jüngste, ein Mädchen, blieb zu Hause und heiratete den Segelmacher Møller aus der Nygade. Sie hatten vier Kinder, die jeden Tag im Kontor des Großvaters in der Prinsegade erschienen und ihm mit ihren dünnen, klaren Stimmen etwas vorsangen. Auf dem Schreibtisch lagen Telegramme aus Algier, Antwerpen, Tanger, Bridgewater, Liverpool, Dünkirchen, Riga, Kristiania, Stettin und Lissabon. Auf seine alten Tage war Lorentz wieder so dick geworden wie damals, bevor er zur See ging. Doch nun gab es niemanden mehr, der ihn wegen seines gewaltigen Körperumfangs verspottete. Er saß in seinem drehbaren Kontorstuhl, während er dem Gesang seiner Enkel lauschte, und glich einem dieser feisten, zufriedenen Buddhas, die überall in den chinesischen Tempeln zu finden sind.
Der Friedhof, auf dem Lorentz eines Tages in der Erde liegen sollte, um die Ewigkeit abzuwarten, war wie so vieles andere in Marstal neu angelegt worden. Früher hatten wir uns zwischen der Kirkestræde und der
Vestergade im Schatten der Buchen rund um die Kirche begraben lassen. Nun legten wir einen Friedhof außerhalb der Stadt an. Vom Ommelsvej zog er sich bis hinunter zum Strand, und von dort konnte man über das Inselmeer sehen. Wir pflanzten eine lange Allee von Ebereschen, die mindestens hundert Jahre stehen bleiben sollte. Es gab Platz für viele Tote.
Nicht nur dass wir davon ausgingen, dass Marstal auch in Zukunft so viele Einwohner haben würde wie damals. Wahrscheinlich glaubten wir sogar, dass es noch mehr würden. Aber offenbar haben wir auch gehofft, den Tod nicht mehr in fremden Häfen oder auf See zu finden, sondern stattdessen unseren letzten Atemzug in heimatlicher Umgebung zu tun.
Ein Friedhof, der sich langsam füllt, hat eine beruhigende Botschaft: Du wirst an dem Ort sterben, an dem du geboren bist, den du magst und wo du hingehörst. Du wirst deine Kinder aufwachsen sehen. Alt und dick wirst du dasitzen, während deine Enkel für dich singen, und hinter dir verläuft dein Leben wie eine Senke, die am schmalen weißen Rand des Strandes beginnt und in der Aussicht auf das Inselmeer ausläuft.
Jemand von uns gab einmal eine
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