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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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merkwürdige Antwort auf die Frage, warum er nicht aufgegeben hätte, obwohl sein Schiff unterging und er selbst dem Tod geweiht zu sein schien.
    Es war Morten Seier. Er fuhr unter Kapitän Anders Kroman als Steuermann auf der Flora, und es geschah im Dezember des Jahres 1901. Die Flora war von England nach Kiel mit Kohle unterwegs, als der Westwind sich zu einem Sturm auswuchs. Sechs Tage trieben sie in hartem Sturm und Frost, lediglich das dicht gereffte Großsegel und die Stagfock hatten sie gesetzt. Dann entwickelte sich der Sturm zum Orkan und riss das große Rettungsboot, das Kombüsenhaus und das Ruderhaus mit sich. Nur angeleint konnten sie sich an Deck aufhalten, während haushohe Wellen von allen Seiten über sie hereinbrachen. Am zehnten Tag erwischte eine Sturzsee die Takelage, die Last verschob sich, und als die Flora sich in dem brodelnden Meer wieder aufrichtete, hatte sie eine böse Schlagseite. Die Masten, die Takelage und sämtliche Aufbauten waren weg, Wrackteile schwammen in den Wellen, das Weiße des Schaums duckte sich unter der Wucht des Orkans.
    Die Mannschaft versammelte sich in der Kajüte, und Kapitän Kroman,
der als Mann geradeheraus war, erklärte, dass sie nicht erwarten sollten, Heiligabend lebendig zu erleben.
    Dann erschütterte eine weitere gewaltige Sturzsee das Schiff. Alle wurden sie gegen das Schott geworfen und waren davon überzeugt, dass die Flora gerade ihren Gnadenstoß erhalten hatte. Nun würde sie in den Wellen verschwinden, nun erwartete sie nur noch der kalte Tod durch Ertrinken.
    Doch noch immer hielt sich der geschundene Rumpf über Wasser.
    Es war Morten Seier, der die rettende Idee hatte. Ihm war klar, dass sie die Ladung über Bord werfen mussten, um das Schiff zu erleichtern, damit das empfindliche Achterschiff ungehindert aus der gefährlichen See auftauchen konnte. Da sie nicht wagten, die Luken zu öffnen – aus Furcht, das Schiff könnte volllaufen –, hackten sie sich stattdessen mit Äxten durch das Schott der Kajüte bis in den Laderaum. Im Lauf der Nacht schleppten sie vierzig Tonnen Kohle heraus. Sie hatten nicht geschlafen, seit das Rigg über Bord gegangen war. Den dritten Tag wach, frierend in dem tosenden Schneesturm, der, ohne schwächer zu werden, über das nackte Schiffsdeck fegte, durchweicht von den eiskalten Wassermassen, die ununterbrochen das Schiff überspülten, löschte die sechs Mann starke Besatzung der Flora während einer einzigen Nacht vierzig Tonnen Kohle in Eimern und Säcken und beförderte sie ins Meer. Es waren fast sieben Tonnen oder siebentausend Kilo für jeden.
    Hinterher fühlten sie sich wie erschlagen, erzählte Morten Seier, und nach einer Weile fielen alle in einen tiefen Schlaf, die Mannschaft im leeren Laderaum, Kapitän Kroman und Seier in der Kajüte.
    Sie erwachten am frühen Morgen des 24. Dezember, der Sturm war abgeflaut. Sie errechneten, dass sie zirka sechzehn Seemeilen von den Orkneyinseln entfernt sein mussten, aber da der Sturm ihr Rettungsboot mit sich gerissen hatte, konnte Land ebenso gut Rettung wie Untergang bedeuten. Sie kamen auf die Idee, die beiden Ankerketten zu verbinden, um im letzten Augenblick eine Abdrift gegen die mörderische Klippenküste zu vermeiden.
    Dann endlich kam Hilfe. Ein holländisches Fischerboot tauchte am Horizont auf, und die Besatzung der Flora rettete sich an Bord des fremden Schiffs.
    «Und wieso hast du ausgehalten?», wollten wir wissen.

    Im Grunde war es eine dumme Frage, doch wir fragten trotzdem, obwohl sich jeder denken konnte, was er antworten würde: Morten Seier wollte gern das Haus in der Buegade wiedersehen. Er wollte nicht von seiner Frau Gertrud und seinen Kindern Jens und Ingrid getrennt werden, die ihn genauso brauchten wie er sie. Er wollte Weihnachten zu Hause sein. Er wollte wie jeder Seemann gern Kapitän werden und sein eigenes Schiff führen, bevor er irgendwann an Land ging. Kurz gesagt: Es war zu früh für ihn zu sterben.
    Doch Morten Seier antwortete etwas vollkommen anderes. Auf eine dumme Frage gab er eine kluge Antwort.
    «Ich hielt aus, weil ich gern auf dem neuen Friedhof begraben werden will», sagte er.
    Manch einer wird vielleicht denken, dies sei eine seltsame Antwort. Vielleicht kann sie auch nur ein Seemann verstehen. Doch so verhielt es sich mit unserem neuen Friedhof. Er war eine Hoffnung.
    Er war ein Grund, nach Hause zurückzukehren.
     
    Was hätten wir getan, hätte ein Fremder uns erzählt, dass der Friedhof immer halb leer

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