Wir Ertrunkenen
bleiben würde und nur wenige Grabsteine von den hier einmal gelebten Leben berichten sollten. Dass die lange Landstraße mit den Ebereschen unter hoch gewachsenem Gras verschwinden und die Allee, die wir uns gedacht hatten, einem zufällig wuchernden Gehölz gleichen würde, in dem nur ein geübtes Auge den Plan sehen konnte, den es dafür einstmals gab.
Was hätten wir getan, hätte ein Fremder uns erzählt, dass die Kette von Generation zu Generation bräche und uns eines Tages Kräfte herausfordern würden, die stärker waren als das Meer.
Wir hätten ihn ausgelacht, diesen Narr.
Albert glaubte an die Vernunft, doch im Grunde war nicht dies sein wahres Glaubensbekenntnis. Er glaubte nicht an Gott, und er glaubte nicht an den Teufel. Er glaubte ein wenig an das Gute im Menschen, und was das Schlechte anging, so hatte er es selbst an Bord der Schiffe erlebt,
auf denen er gesegelt war. Vor allem aber glaubte er an die Einigkeit. Soweit ihm bekannt war, hatten Gläubige normalerweise keinerlei Beleg für die Existenz Gottes. Doch er hatte den Beweis, dass sein Glaube auf einer soliden Wirklichkeit fußte. Jeden Morgen schaute er von seinem Giebelfenster über dem Maklerkontor in der Prinsegade auf diesen Beweis.
Er konnte ihn auch vom Erker des darunter liegenden Kontors aus sehen. Darum hatte er den Erker anbauen lassen. Wenn er die drei Stufen der Steintreppe hinunterging und rechts in die Prinsegade zum Hafen bog, lag der Beweis ausgebreitet vor seinen Augen.
Es war die gewaltige Feldsteinmole, die die Bewohner der Stadt in vierzig Jahren erbaut hatten. Sie stand mitten im Wasser, über tausend Meter lang und vier Meter hoch, gebaut aus Steinen, die jeder für sich einige Tonnen wogen. Klüger als die Ägypter schufen wir unsere Pyramide als eine lange Mauer aus Stein, die nicht die Erinnerung an die Toten bewahren, sondern die Lebenden beschützen sollte. Die Mole war ein Werk Pharaos, sagte Albert zu uns, eines Pharaos, der nicht nur ein Gesicht, sondern viele Gesichter hatte – und zusammen bildeten sie eine Einheit.
Das war Alberts Morgenandacht: der Blick des Seemanns auf den Himmel und seine Wolkenformationen, die voller Botschaften für den Kundigen waren, und dann die Ruhe, die er beim Anblick der Mole empfand. Sie lag da wie eine ruhende Kraft, stärker als das Meer, imstande, den Sturm, der draußen tobte, abzuschwächen und den Schiffen Schutz zu gewähren, der lebende Beweis der Einigkeit. Wir segeln nicht, weil es ein Meer gibt, sondern weil es einen Hafen gibt. Wir suchen nicht unbedingt nach fernen Zielen. Wir suchen vor allem Schutz.
In die Kirche kam er selten. Nur an den Feiertagen und bei besonderen Gelegenheiten. Er ging dorthin, weil auch die Kirche ein Teil der Einigkeit war und er nicht abseits stehen wollte. Besonderen Respekt vor den kirchlichen Ritualen hatte Albert nicht, allerdings war es in der Kirche wie auf einem Schiff. Es gelten gewisse Regeln, und denen haben wir Folge zu leisten, wenn wir erst einmal an Bord sind. Sonst haben wir dort nichts zu suchen.
Verschiedene Pastoren hatten sich bereits über den schlechten Zustand der Kirche beklagt. Doch als Pastor Abildgaard, mit dem Albert eigentlich
gut auskam, sich dafür einsetzte, Geld vom Schuletat abzuzweigen, um die Kirche standesgemäßer herzurichten, bekam er eine deutliche Antwort. Bei einer Wahl zwischen der Schule und der Kirche, sagte Albert, würde er sich immer für die Schule entscheiden. Die Schule war die Jugend und die Zukunft, nicht die Kirche. Es sei ihm ein Trost, sagte er, dass die Schule in der Vestergade größer sei als die Kirche. So hatte es in einer Stadt auszusehen, die an die Zukunft glaubt.
«Aber die Moralbegriffe», wandte Abildgaard ein, «wo sollen die Kinder sie denn bekommen, wenn nicht in der Kirche?»
«An Bord der Schiffe», erwiderte Albert lakonisch.
«Etwa in fremden Häfen?», versetzte der Pastor.
Darauf gab Albert keine Antwort.
Was das Leben auf See anging, hatte er keine Illusionen. Er hatte das geächtete Leben eines Schiffsjungen in der Kombüse erlebt, wo man jedermanns Hund war, allerdings nicht mit der Verpflegung eines Hundes. So jedenfalls drückte er es selbst aus. Doch die Zeiten hatten sich geändert und die Verhältnisse an Bord verbessert, sie waren humaner geworden. Die Kinder hatten tüchtigere Lehrer, und auf diese Weise wurden sie auch bessere Kapitäne, wenn es so weit war. Albert glaubte an den Fortschritt. Er glaubte auch an das seemännische
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