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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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für das Führen einer Mannschaft. In den Händen des Kapitäns lagen Hunderte unsichtbarer Tauenden, ganz abgesehen von den sichtbaren. Übernahm die Mannschaft die Macht, war es so, als übernähme der Wind die Macht. Dann war es vorbei mit dem Schiff. War der Kapitän aber allmächtig, kam es einer Flaute gleich. Dann rührte sich das Schiff nicht von der Stelle. Er entzog den Männern jegliche Initiative. Sie leisteten nicht mehr ihr Bestes, sondern gingen an alles widerwillig heran. Es war eine Frage der Erfahrung und des Wissens. Vor allem aber war es eine Frage der Autorität.
    Als Albert den Matrosen verprügelt hatte und er übel zugerichtet auf Deck lag, reichte er ihm die Hand und half ihm auf die Beine. Dann befahl er dem Schiffsjungen, eine Schüssel mit Wasser zu bringen, damit der Mann sich das Blut aus dem Gesicht waschen konnte. Die Sache war aus der Welt. Der Matrose konnte sich wieder in die Besatzung eingliedern.
    Einst hatte Albert selbst Prügel mit dem Tampen bezogen. Er war jedoch kein Isager, der weder strafte noch belohnte, sondern einfach nur zuschlug. Er war kein O’Connor, der seine Position als Entschuldigung für seine mörderischen Neigungen missbrauchte. Er war kein James
Cook, der zur Peitsche greifen musste, um seine wackelnde Autorität zu festigen.
    Er war das, was Kapitän Eagleton auf der Emma C. Leithfeld niemals zu sein vermocht hatte. Und das war kein Gesetz, das hatte ihn das Leben gelehrt.
    Es war etwas anderes und viel Komplizierteres. Es war die Balance.

    1913 beschloss Albert, seinem Glauben an die Einigkeit ein Denkmal zu errichten. Er stellte sich einen Gedenkstein vor, der nahe der neuen Dampskibsbro aufgestellt werden sollte. Albert hatte bereits einen Stein ausgewählt und kannte seine Geschichte. Der Stein war zirka vier Meter lang, drei Meter breit und zwei Meter hoch. Er lag auf dem Grund der Ostsee vor der Halbinsel und konnte bei stark ablandigem Wind manchmal von Land aus gesehen werden. Im Sommer schwammen die Jungen zu dem Stein und stellten sich darauf. Dann ragten ihre hellen Köpfe gerade über das in der Sonne flirrende Wasser.
    Das Lichtspiel der Wellen flackerte über den gewaltigen Buckel, und Albert saß manchmal in seiner Jolle und ließ die Ruder über dem Stein ruhen, während er ihn betrachtete. Sehr solide lag er dort unten im hellgrünen, fließenden Wasser. Aber auch er war einst auf einer Wanderung gewesen und mit dem Eis von Norden gekommen. Nun sollte er noch einmal umgesetzt werden, diesmal an einen bleibenden Ort. Er sollte an die Fertigstellung der Mole, an die Macht des Menschen über die Natur erinnern.
    «Einigkeit macht stark» sollte darauf stehen.
    Es war eine Inschrift, die Albert sich hatte einfallen lassen.
     
    Während er an einem sonnigen Julitag über der Reling lehnte und hinunter auf das glitzernde Wasser starrte, wurde er von einem gewaltigen Schwindelgefühl erfasst. Es kam ihm vor, als verlöre die Welt all ihre Solidität, als würden nicht einmal mehr die Dinge, an die er glaubte, noch lange bestehen. Er spürte die Existenz anderer Bedrohungen als den Sturm und die Kraft der Wellen – Katastrophen, gegen die selbst
die unerschütterliche Feldsteinmauer der Mole keinen Schutz bot. Das Gefühl war so unbestimmt und traumähnlich, dass er glaubte, in der Nachmittagssonne eingeschlafen zu sein. Dann richtete er den Blick auf den Stein unter Wasser. Albert sah den Schatten des Boots und seinen eigenen Schatten auf dessen runzligem Rücken, und langsam tauchte er wieder in die Wirklichkeit ein.
    In diesem Moment war ihm die Idee gekommen, urplötzlich, wie ein Wirbelsturm der Inspiration, doch nicht ohne Panik. Es war an der Zeit, Bilanz zu ziehen, eine Bilanz, die nicht groß, stark und unverrückbar genug sein konnte, eine Art Gegengewicht zu seinem Gefühl unterzugehen: der Stein.
     
    Nur wenige Tage später lud Albert zu einem Treffen in den Räumen der Seeversicherung in der Havnegade ein. Dort präsentierte er dem Kreis der Geladenen seine Idee. Der Vorschlag, einen Gedenkstein zu errichten, fand allgemeine Zustimmung, und es wurde ein Komitee gegründet, das die vorbereitenden Arbeiten übernehmen sollte. Noch im selben Jahr, noch vor Einbruch des Herbstes, musste der Stein an seinem Platz stehen.
    Eine Woche später besichtigte er zusammen mit den Vorsitzenden der Hafenkommission und der Seeversicherung den Stein. Es wehte eine frische westliche Brise, und der oberste Teil des Steins ragte aus dem Wasser. Die

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