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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Ehrgefühl. Darauf baute die Einigkeit. Auf einem Schiff konnte ein Versagen schicksalsschwere Folgen für alle haben. Das verstanden Seeleute schnell. Für den Pastor waren es die Moralbegriffe, Albert nannte es Ehre. In der Kirche musste man sich gegenüber Gott allein verantworten, auf einem Schiff hatte man die Verantwortung für die anderen. Daher stellte das Schiff einen besseren Lehrplatz dar.
    Aber alles stand und fiel mit dem Kapitän. Das war die Lehre, die er aus seinen Erfahrungen gezogen hatte. Der Kapitän wusste, wohin die Dinge an Bord gehörten, jedes einzelne Segel, jedes Tauende, und das Gleiche galt für die Mannschaft. Jeder Einzelne von den Männern hatte einen bestimmten Platz, und wenn der Kapitän das nicht von vornherein klarmachte, klärte die Mannschaft es durch Schlägereien unter sich. Am Boden blieb dann der Schwächste, der aber nicht notwendigerweise der Unfähigste war. Albert hatte es auf der Emma C. Leithfeld erlebt, als Kapitän Eagleton versagte und O’Connor zum wirklichen
Herrscher des Schiffs wurde. Der Stärkste war nicht immer der Geeignetste. Ein Kapitän musste das menschliche Gemüt ebenso gut kennen wie die Segel seines Schiffs.
    Es gab Leute, die ihm davongelaufen waren, aber er hatte es nie für Aufsässigkeit oder den Ausdruck eines schlechten Charakters gehalten, nein, er hatte es immer als Niederlage seiner eigenen Menschenkenntnis empfunden. Er war unaufmerksam gewesen und hatte es nicht verstanden, ihnen den rechten Weg zu weisen. Er glaubte wie gesagt, dass etwas Gutes in allen Menschen steckte. Aber er wusste auch, dass etwas Schlechtes existierte, und seine schlichte Meinung war, dass auch das Böse gezüchtigt und im Zaum gehalten werden konnte.
    Einmal, in den achtziger Jahren in Laguna in Mexiko, hatte ein Matrose ihn mit dem Messer bedroht. Als Albert dem tobenden Mann gegenüberstand, der sich in Angriffsposition nach vorn beugte, hatte er nicht einen Moment das Gefühl, dass sein Handeln besonderen Mut oder besondere Kräfte erforderte, obwohl er selbst unbewaffnet war. Es drehte sich nur um eine einzige Sache: dass er sich absolut sicher war in seiner Überzeugung, wer zu bestimmen hatte.
    Er hatte die Hand ausgestreckt, als wollte er das Messer ergreifen. Der Matrose hatte verwirrt auf die Hand gestarrt, ohne zu verstehen, was Albert wollte. In diesem Moment schlug Albert ihm mit aller Kraft die geballte Faust ans Kinn. Der Mann stürzte aufs Deck. Albert stellte seinen Stiefel auf dessen Handgelenk und entwand das Messer den Fingern, die sich krampfhaft um den Schaft krallten. Daraufhin hatte er den benommenen Mann auf die Beine gezogen und ungerührt angefangen, ihn zu verprügeln, wobei er es jedoch sorgfältig vermied, auf Stellen zu schlagen, an denen er bleibende Schäden riskiert hätte. Es war gleichermaßen die Vollstreckung einer Strafe wie die Ausübung seiner Autorität und Befugnisse.
    Während er zuschlug, war er sich die ganze Zeit über bewusst, dass er nicht als Repräsentant des Guten auftrat, ebenso wenig, wie der Matrose mit dem Messer ein Repräsentant des Bösen war. Es war lediglich eine Frage des Gleichgewichts zwischen unterschiedlichen Kräften. Niemand fährt mit vollen Segeln in einen schweren Sturm. Ein Kapitän setzt nicht auf Konfrontation. Er lässt die Segel reffen und findet einen Ausgleich. Jede wirkliche Ordnung hing vom Gleichgewicht ab, nicht von der Unterdrückung
des einen durch den anderen. Daher gab es keine Ordnung, die ein für alle Mal galt.
    Einen Augenblick bevor James Cook an der Kealakekua-Küste von Hawaii sein Schicksal in Form eines Keulenschlags in den Nacken und eines Messers in den Hals ereilte, signalisierte er seiner Mannschaft, dass er Hilfe brauche. Doch das Boot, das ihm als Entsatz dienen sollte, wendete, und die Männer, die ihn am Strand gegen die Eingeborenen verteidigen sollten, schmissen ihre Musketen fort und flüchteten in die Brandung. Auf seiner letzten Reise an Bord der Resolution hatte James Cook elf seiner siebzehn Matrosen auspeitschen lassen, insgesamt hatte er ihnen zweihundertsechzehn Schläge verpasst. Und als der Augenblick kam, da er ihre Hilfe benötigte, drehten sie ihm ihre vernarbten Rücken zu.
    James Cook hatte am falschen Tauende gezogen.
    Es gab kilometerlanges Tauwerk auf einem Segelschiff, Dutzende von Blöcken, Hunderte Quadratmeter Segeltuch. Wenn man die Segelstellungen nicht ständig justiert, wird das Schiff ein hilfloses Opfer des Windes. Das Gleiche gilt

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