Wir Ertrunkenen
Idiot.
Albert fasste Anders Nørre unter den Arm, er kam bereitwillig mit.
«Warst du kürzlich in der Kirche, Anders?», wollte er wissen.
Anders Nørre nickte. «Ich gehe jeden Sonntag dorthin.»
Es gab keine Schwierigkeiten, mit Anders Nørre ein Gespräch zu führen; es war auch nicht mangelndes Ausdrucksvermögen, das ihm den Ruf eingebracht hatte, ein Idiot zu sein. Im Gegenteil, er hatte eine sanfte und angenehme Stimme und drückte sich immer klar und verständlich aus. Es war eher sein starres Gesicht, das außerstande zu sein schien, irgendein Gefühl zu zeigen, und natürlich seine liderliche Lebensweise. Bis zu ihrem Tod hatte er bei seiner Mutter gewohnt, und es hieß, dass er bis weit in sein Erwachsenenalter jede Nacht in ihrem Bett geschlafen hätte. Als sie starb, ließen die Frauen, die die Leiche herrichteten, die Mutter im Bett liegen, da sie erst am folgenden Tag eingesargt werden sollte. Am nächsten Morgen fanden sie Anders Nørre schlafend neben ihr. Als es Zeit war, ins Bett zu gehen, hatte er sich wie gewöhnlich neben seine Mutter gelegt. Bei der Beerdigung zeigte er keinerlei Anzeichen von Trauer.
Das einzige Gefühl, das sich offenbar in ihm regte, war eine überwältigende Beharrlichkeit, wenn man eine derartige Eigenschaft als Gefühl bezeichnen kann. Wurde ihm verboten, oder wurde er daran gehindert, etwas auszuführen, was er sich vorgenommen hatte, sprang er auf und schrie unverständliche Worte, während er mit den Armen fuchtelte, offensichtlich nicht, um zu schlagen, sondern in einer Art Verzweiflung. Dann rannte er aus der Tür seines kleinen Schuppens und verschwand
auf den umliegenden Feldern. Er konnte mehrere Tage weg sein, bevor er erschöpft wieder zurückkehrte.
Doch irgendwo steckte auch ein Rest Vernunft in ihm, nicht nur ein bisschen, sondern tatsächlich ziemlich viel; allerdings schien es dafür keine rechte Verwendung zu geben. Nannte man ihm das Alter und das Geburtsdatum eines Mannes, konnte er ohne Weiteres die Anzahl der Tage ausrechnen, die er gelebt hatte, sogar unter Berücksichtigung der Schaltjahre. Irgendwann hatte ihn mal jemand gefragt, wie viele Tage vergangen seien, seit Jesus in der Krippe gelegen habe – die Antwort erfolgte prompt. Wenn er aus der Kirche kam, konnte er wörtlich die Predigt des Pastors wiederholen, zum großen Vergnügen der Seeleute, die am Sonntagvormittag die Bänke am Hafen denen der Kirche vorzogen.
Am ersten Frühlingstag zog er sich Schuhe und Strümpfe aus. Dann ging er barfuß, bis der Winter zurückkehrte. Im Winter wühlte er in Misthaufen und Abfalleimern, um etwas Essbares zu finden. Niemand hätte ihn Hungers sterben lassen, es war eher eine Lebensform, die er vorzog. Daher stand unser Urteil fest: Er ist ein Idiot.
Albert hatte Anders Nørre immer gegrüßt. Daran war nichts Ungewöhnliches. Die Idioten der Stadt waren Allgemeinbesitz. Wir redeten mitleidig und herablassend mit ihnen, duzten sie und schlugen ihnen auf die Schulter. Sie hatten nicht dieselben Rechte.
Albert fuhr mit seiner Befragung über den sonntäglichen Kirchgang fort, und Anders Nørre beantwortete bereitwillig alle Fragen. Seine Stimme verriet nicht einen Augenblick, welche Gedanken oder Gefühle der Gottesdienst in ihm ausgelöst hatte. Eigentlich ein Wunder, dachte Albert, dass seine Stimme trotz ihrer Leblosigkeit so angenehm klingt. Es war wohl nur diese Menschlichkeit in seiner Stimme, die ihn daran hinderte, in Anders Nørre einen Papagei zu sehen, der über ein sehr gut entwickeltes Talent zum mechanischen Auswendiglernen verfügte und über nichts anderes. Auch seine Fähigkeit, schwierige Rechenaufgaben zu lösen, hatte ja etwas Seelenloses. Doch eine Seele musste es irgendwo dort drinnen geben. Davon war Albert überzeugt. Ein vor sich hin dämmernder Menschenverstand, um den sich niemand gekümmert, den niemand gepflegt oder entwickelt hatte, und nun war es wahrscheinlich zu spät.
Anders Nørre hatte den Arm zurückgezogen. Es gab keinen Grund, dass Albert ihn stützte, er war bei dem Angriff der Jungen nicht zu Schaden gekommen. Wenn er verängstigt war, verrieten es seine wie immer starren Gesichtszüge jedenfalls nicht.
Sie gingen über den Marktplatz und durch die Markgade hinaus zur Reeperbahn, bis sie kurz vor den Feldern Anders Nørres Schuppen erreichten. Auf dem letzten Stück des Weges hatte Nørre seinen Begleiter mit einer wörtliche Wiedergabe von Pastor Abildgaards Sonntagspredigt unterhalten, doch
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