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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Krieg?
    «Was für einen Krieg?», würde Eriksen fragen und ihn mit vollem Recht als geistesgestört ansehen.
     
    Eine Bürde war auf seine Schultern geladen worden, die zu tragen er sich nicht eignete. Er war Zuschauer von Unglücksfällen und Katastrophen, von deren Ursache und Art er nicht die geringste Ahnung hatte. Würde es die Sache besser machen, wenn er gläubig wäre? Würde er Trost in Jesus finden? Aber die Menschen brauchten keinen Trost. Sie brauchten Entschlusskraft, und daher waren die Träume wie eine Krankheit. Sie griffen den Kern seines Wesens an. Sie nahmen ihm seine Energie und Willenskraft. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich selbst machtlos, und diese Erfahrung fraß an seiner Seele und raubte ihm die Kraft.
     
    Während der Weihnachtstage frischte es zu einem gewaltigen Schneesturm aus Nordost auf, und das Wasser im Hafen begann zu steigen. Er ging hinunter zum Kai und beobachtete, wie die Mannschaften zusätzliche Trossen und Festmacher anbrachten. Über hundert Schiffe lagen im Hafen, und über der Stadt hing ein Heulkonzert aus den vielen Takelagen, in die der Nordostwind pfiff. Das Klappern und Knallen von Tauwerk, das auf Holz schlägt, war zu hören und das Geräusch der Schiffsrümpfe, die gegeneinander oder an den Kai stießen, bis die Mannschaft die Vertäuung im Griff hatte. Das Wasser stieg weiter, und in der Dämmerung erhoben sich die Schiffe im Schneetreiben wie bedrohliche Schatten immer höher über den Kai – eine Flotte Fliegender Holländer, die sich versammelt hatte, um den Untergang der Stadt anzukündigen. Doch dann hörte das Wasser auf zu steigen. Der einzige Schaden wurde an der Dampskibsbro festgestellt, wo die Wellen die Kopfsteinpflasterung aufgerissen hatten.
    In seinen Aufzeichnungen, in denen er weiterhin Buch über die noch Lebenden führte, hielt Albert über die Mole fest, dass «das Riesenwerk
der Väter erneut seine Probe bestanden hatte». Er schrieb es aus Trotz, als eine Art Protest gegen all seine Träumereien. Es war die Mole, die verhindert hatte, dass das Wasser weiter anstieg.
    Doch er wusste genau: Die Zeit der Mole war vorbei. Es würden andere und stärkere Feinde kommen, gegen die uns die Mole nicht schützen konnte.

    Es passierte immer wieder, dass der arme Anders Nørre durch die Straßen der Stadt hastete, verfolgt von einem Haufen johlender Jungen. Er lief mit steifen Schritten, die ständig länger wurden. Fort wollte er, aber Reißaus zu nehmen, wagte er auch nicht. Er hatte wohl Angst, dass eine offensichtliche Flucht etwas Furchtbares bei seinen Verfolgern auslösen konnte. Außerdem gab es keine Hoffnung, einem Haufen Jungs davonzulaufen.
    Die Jagd endete jedes Mal auf die gleiche Weise. Anders Nørre wurde gegen eine Hausmauer gedrängt. Dann stand er da und rieb seine Wange an den rauen Steinen und jammerte leise. Oder er verlor die Beherrschung und bekam einen hemmungslosen Wutanfall. Heulend wie ein Tier, wurde er plötzlich selbst zum Verfolger und sprang hinter der Gruppe von Jungen her, die sich unter großem Gelächter und flink wie die Eichhörnchen in alle Richtungen verstreuten.
    Meist griffen die Erwachsenen ein, doch nicht immer. Auch sie hatten ihren Spaß daran.
     
    Bei einer derartigen Gelegenheit kam Albert Anders Nørre näher. Anders Nørre war älter als er, doch das Alter hatte bei ihm kaum Spuren hinterlassen, abgesehen von seinem weißen Haar und dem weißen Vollbart. Doch auch diese Kennzeichen des Alters verschafften Anders nicht die Autorität, die Kinder in ihre Schranken zu weisen.
    Albert sprang mitten in die Schar, die vom Marktplatz an hinter Nør-re her war und ihn durch die Skolegade und Tværgade gejagt hatte, bis er sich schließlich an eine Gartenmauer gegenüber von Webers Café in der Prinsegade presste.

    Albert hob seinen Stock, als ob er zuschlagen wollte, und stieß eine Drohung aus. Sofort rannten sie davon.
    «Ich begleite dich nach Hause», sagte er zu Anders Nørre.
    Nørre stand mit an die Ohren gepressten Händen und zusammengekniffenen Augen da. Nun öffnete er die Augen. Er wohnte etwas außerhalb der Stadt, in einem kleinen Schuppen an der Reeperbahn. Hier saß er den lieben langen Tag und drehte Seile an einem Spinnrad, und wenn es in der Seilerei nichts zu tun gab, war er damit beschäftigt, Kabelgarn zu zupfen. Es war eine trostlose und eintönige Beschäftigung, die er ausgeübt hatte, solange man sich erinnern konnte. Der allgemeinen Meinung nach war er ein

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