Wir Ertrunkenen
plötzlich erstarrte Albert. Er kam ihm mit einem Mal so vor, als würde sich der Papagei an seiner Seite mit einer dringlichen Botschaft direkt an ihn wenden.
Er blieb stehen und starrte Nørre ins Gesicht. Er schien nichts zu bemerken. Seine Stimme blieb unverändert in der gleichen Tonlage. Ungewöhnlich jedoch waren seine Worte. Konnte es wirklich Pastor Abildgaard sein, der dafür verantwortlich war, oder hatten die Worte einen ganz anderen Ursprung, aber welchen? Nørres Seele, die überraschend erwacht war?
«Du standest in der Kraft deines Lebens», sagte der Mann neben ihm, und gerade weil Nørre niemanden dabei ansah und seine Tonlage sich die ganze Zeit über nicht änderte, schien es, als kämen die Worte von einem anderen Ort, als nähme Nørre in diesem Moment die Würde und Autorität eines Orakels an.
«Du hast gespürt, dass die Welt deine Kraft brauchte, und du hast dich glücklich dabei gefühlt. Aber dann veränderte es sich. Deine Kraft schwand, und die Welt zog sich von dir zurück. Du fühltest dich einsam. Die Welt war wie ein großes Lächeln, das dich lockte und anzog. Aber dann veränderte es sich. Schwere und harte Zeiten kamen, und das Lächeln der Welt verschwand hinter drohenden Wolken. Du lebtest ein Leben voller Liebe. Aber dann veränderte es sich. Dein liebster Schatz wurde dir genommen.»
Albert schluckte. Die Worte berührten ihn auf sonderbare Weise. Als ob jemand ihn direkt ansprach, nur ihn. Er dachte, wo es einen Mund gibt, gibt es auch ein Ohr. Endlich würde er sich der Bürde der Einsamkeit entledigen können. Endlich konnte er das, womit er zurechtkommen musste, teilen. Es stimmte ja jedes Wort, das gesagt wurde. Die Kraft war ihm genommen, das Glück des Lebens, diese Welt, in der er
etwas gefunden hatte, das er liebte, in der es an nichts gemangelt hatte. Mit dem Urheber dieser Worte konnte er seine Not teilen. Aber wer war es? Pastor Abildgaard? Er glaubte es einfach nicht. Nørre? Ein noch unmöglicherer Gedanke. Oder ein unbekannter Dritter? Wer sollte das sein?
Einen Augenblick war er vollkommen in Gedanken versunken. Dann hörte er wieder Nørres Stimme. Die sonntägliche Predigt näherte sich ihrem Ende. Es waren die altbekannten Themen, die nun auftauchten, und Sonntag für Sonntag gleich. Gottes Wege, Golgathas Kreuz, Jesu Liebe, und diesen Sonntag wurde das Wort Liebe ein ums andere Mal wiederholt: Jesu Gedanken aus Liebe, Jesu Hilfe aus Liebe, Jesu Auferstehung aus Liebe. Es waren die gleichen Banalitäten, die die Religion immer als Antwort auf die Schwierigkeiten des Lebens anbot. Also schien es doch Abildgaard zu sein.
Einen Augenblick war es dem Pastor gelungen, direkt zu seiner Seele zu sprechen. Aber Albert brauchte die Religion nicht. Er brauchte keinen Trost oder Schmus. Doch hatte er selbst auch keine Worte für das, was er brauchte. Möglicherweise nur eines: ein Ohr, aber nicht das des Pastors.
Was wusste Abildgaard denn über diese Dinge, über die er wohl reden konnte, die er aber nicht kannte: von den Lebenden verstoßen und an einer dunklen und unbekannten Knochenküste angespült zu werden, die von Toten bevölkert ist, zu denen man doch nicht gehört.
Albert schüttelte sich wie ein nasser Hund. Ihm war kalt. Irgendetwas in ihm zitterte. Er trat zusammen mit dem einzigen Bewohner in den Schuppen. Nørre setzte sich sofort aufs Bett und begann, Kabelgarn zu zupfen. Nichts in seiner Miene verriet, ob er seinen Gast willkommen hieß oder es vorgezogen hätte, wenn er wieder verschwand. Da es keine anderen Möbel gab, setzte Albert sich neben ihm aufs Bett. Der Schuppen war nicht geheizt, und möglicherweise war es die Winterkälte, welche die unangenehmsten Gerüche fernhielt, denn appetitlich ging es in dem Schuppen nicht gerade zu.
«Träumst du nie, Anders?»
Albert sah Nørre an und versuchte, seinen Blick zu erhaschen. Er zeigte wie gewöhnlich keinerlei Regung.
Albert beugte sich vor und starrte auf den Boden. Einen Moment
schien er Selbstgespräche zu führen. Oder zu dem unsichtbaren Ohr zu sprechen, das er so lange gesucht hatte.
«Siehst du», sagte er, «ich habe ziemlich sonderbare Träume.»
Er spürte die Erleichterung. Es war das erste Mal, dass er jemandem von seinen Träumen erzählte, und er hatte das Gefühl, als würde der Druck in diesem Augenblick nachlassen.
«Ich träume so viel vom Tod. Ich sehe Schiffe untergehen, und Männer werden erschossen und ertrinken. Es sind Menschen hier aus der Stadt, die ich
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