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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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kenne.»
    Es erfolgte keinerlei Reaktion. Was hatte er auch erwartet? Es war ja keine Beichte, es sei denn, man hält eine Beichte in die leere Luft oder die blanke Wand für eine Beichte. Wie konnte er auf eine Resonanz von diesem Verrückten hoffen? Er kannte die Antwort gut genug. Weil er sich selbst auf dem Weg in das dunkle Land des Wahnsinns befand, auf einem unbekannten Territorium, in dem die Wahnsinnigen sich mühelos bewegten, in dem er allerdings ein Anfänger war. In gewisser Weise bat er um Hilfe.
    Albert wurde vom Schweigen des anderen überwältigt und wusste nicht, wie er weitermachen sollte. Er blickte auf. Es war doch etwas geschehen. Anders Nørres Hände lagen still in seinem Schoss, und in seinem Blick lag ein Glanz, der möglicherweise darauf hinwies, dass es in ihm doch noch etwas anderes gab als nur die mechanischen Lösungen von Rechenaufgaben.
    «Hast du auch diese Art von Träumen?»
    Er ließ seine Stimme so sanft wie möglich klingen, als er die Frage stellte. Es schien, als versuchte er, Anders Nørres verborgene Seele zu erreichen. Doch er wusste, dass er eigentlich nach seiner eigenen Seele tastete.
    Anders Nørre erstarrte. Dann sprang er mit einem Brüllen auf. Die angenehme Stimme war verschwunden. Stattdessen entfuhr ihm ein raues, unartikuliertes Brüllen. Er lief zur Tür und riss sie auf, drehte sich noch einmal um und sah Albert mit aufgerissenen Augen an, bevor er in der Dämmerung verschwand.
    Albert blieb auf dem Bett sitzen. Es gab keinen Grund, dem Verschwundenen nachzulaufen. Er wusste, dass Nørre sich auf eine seiner langen Touren über die Felder begeben hatte und erst in einigen Tagen
wieder auftauchen würde. Albert konnte sich nicht erheben. Nørres Reaktion hatte ihn gelähmt. So schlecht war es also um ihn bestellt. Sogar ein Idiot fand ihn grauenerregend. Sogar in dem dunklen Land, in dem Anders Nørre sich so sicher bewegte, erschien er wie ein Ungeheuer.
     
    Träumt er so wie ich?, dachte Albert. Oder ist er wie die Tiere, die ein Erdbeben lange vor den Menschen ahnen und in der Nacht, bevor die Erde aufreißt, ängstlich heulen?

    Der Ausbruch des Krieges erschien Albert als Erleichterung.
    «So kann es gehen», konstatierte er für sich. «Wenn man etwas lange genug fürchtet, kann selbst die Erfüllung der schlimmsten Vorahnungen zu einer Befreiung werden.»
    Wie er reagieren würde, wenn die Seeleute der Stadt zu sterben begannen, wusste er nicht. Aber einen Moment lang fühlte er sich weniger einsam. Er konnte nun mit den anderen über den Krieg diskutieren.
    Vorläufig erklärte Dänemark sich neutral. Der Kriegsausbruch hatte dennoch Konsequenzen für unsere Stadt. Alle Frachten wurden sofort annulliert, und Marstals Flotte musste bereits im August in den Winterhafen. Es war ein merkwürdiger Anblick, als die Schoner den Hafen mit ihrem Wald aus Masten füllten, während die Sonne noch hoch am Himmel stand und die Kinder sich zwischen den aufgelegten Schiffen im Wasser tummelten. In den vorhergegangenen Jahren war die Konjunktur stetig gestiegen, und die Seeleute der Stadt verfügten nach wie vor über genügend Geld. Das war an den Wirtshäusern zu sehen. Die Unrast über den plötzlichen Müßiggang und die unsicheren Zukunftsperspektiven schlugen sich im Suff nieder.
     
    Im Oktober kam das Angebot der Kornladungen aus norddeutschen Häfen. Aber niemand wagte sich auf See. Die Seeversicherung deckte keine Fälle von Kriegsschäden, und die Deutschen hatten in der gesamten Ostsee schwimmende Minen ausgebracht. Die Anteilseigner mit kleinen Einlagen wollten ihr Geld nicht riskieren.

    «Eine einzige gute Sache ist doch an dieser Stadt», schrieb Albert, «dass es hier keine rücksichtslosen Großreeder gibt, die für einen geringen Profit das Leben ihrer Mannschaften aufs Spiel setzen.»
    Seine eigenen Schiffe befanden sich bei Ausbruch des Krieges weit von Europa entfernt, und für die Dauer des Krieges beließ er sie auch dort.
    Die Minengefahr fürchteten alle, denn alle besaßen Schiffsanteile. Auch die Nordsee war voller Minen.
    Albert begann sofort, über die von Minen getroffenen Schiffe Buch zu führen. Dank ihrer klugen Vorsicht hatten die Marstaler vorläufig keine Verluste zu beklagen, doch bereits drei Wochen nachdem Deutschland Frankreich den Krieg erklärt hatte, sanken zwei dänische Dampfschiffe, die Maryland und die Chr. Boberg, in der Nordsee. Nur zwei Tage später lief ein Dampftrawler aus Reykjavik auf eine Mine und explodierte. Am

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