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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dritten September verschwand ein weiteres dänisches Dampfschiff.
    Albert führte seine Listen bis zum Jahresende weiter. Einige Male entdeckte er einen Namen aus seinen Träumen. Für ihn war es immer das gleiche schreckliche Erlebnis. Er war ja dabei gewesen und hatte gesehen, wie es geschah. Die Liste links, die seine nächtlichen Erscheinungen festhielt, war noch immer die längere. Es lag daran, dass der Krieg gerade erst begonnen hatte. Manch einer fabulierte über den raschen Zusammenbruch aller Fronten und das baldige Ende des Krieges, doch er widersprach mit einem Kopfschütteln. Aus guten Gründen konnte er uns gegenüber sein sicheres Nein nicht begründen.
    «Es ist auch weiterhin mit sehr viel Tod zu rechnen», sagte er.
    Wir hielten diesen unerwarteten Pessimismus bei einem Mann, den wir eigentlich nur mit seinem Glauben an die Zukunft kannten, für ein Zeichen von Altersschwäche. Albert Madsen hatte den Mut verloren.
    Also behielt er seine Ansichten für sich.
     
    Zugunsten der notleidenden Bevölkerung von Belgien wurde eine Sammlung veranstaltet. Bereits einige Monate nach seinem Ausbruch war uns der Krieg so fern, dass wir an die Not anderer denken konnten.
    Albert ließ sich überreden, in ein Komitee einzutreten, das eine Ausstellung über die Schifffahrtsgeschichte der Stadt vorbereiten sollte. Das Eintrittsgeld wollten wir ohne jeden Abzug nach Belgien schicken.
    Es kamen viele Besucher, die Ausstellung war ein Erfolg. Es wurden
alte Trachten aus Ærø gezeigt, kunstfertige Stickerei- und Klöppelarbeiten, Kerzenscheren aus Messing und einige mit hübschen Schnitzereien verzierte Schränke und Sekretäre. Irgendeine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten weckten die ausgestellten Gegenstände in uns allerdings nicht. Eigentlich bewies das alles nur, dass die Gegenwart besser war und sich alles ständig weiterentwickelte; besonders deutlich wurde dies in der die Entwicklung der Seefahrt dokumentierenden Abteilung.
    «Schaut mal», sagten wir untereinander und zeigten auf das ausgestellte Modell eines alten Marstaler Frachtseglers. «Nur vierundzwanzig Registertonnen. Und daneben der Dreimastschoner, der auf Sofus Boyes Werft gebaut wurde. Er kann fünfhundert Tonnen zuladen – und ist auch schon wieder fünfundzwanzig Jahre alt.»
    Albert interessierte sich am meisten für die Stücke, die die Seeleute der Stadt aus allen Teilen der Erde mit nach Hause gebracht hatten. Die Muscheln, der ausgestopfte Kolibri und die große Sammlung von Sägezähnen des Sägerochens erinnerten ihn an seine eigene Jugend. Gedankenverloren blieb er jedoch vor der Sammlung des Telegrafisten Olfert Black stehen – es handelte sich um chinesische Teppiche und Stickereien, ergänzt durch eine komplette und sehr kostbare Mandarintracht.
    «Ja», sagte er zu Pastor Abildgaard. «Der Seemann weiß aus Erfahrung, dass es eigentlich keine Sitten und Gebräuche gibt.
    Oder besser, dass es viele Sitten und Gebräuche gibt, nicht nur seine eigenen. So machen wir das hier, sagt der Bauer auf seinem Erbhof. Nun ja, so machen die das aber nicht, erklärte der Seemann, denn er hat mehr gesehen. Der Bauer ist sich selbst Maßstab aller Dinge. Der Seemann begreift schnell, dass das für ihn nicht gilt. Jetzt herrscht Weltkrieg, und es ist noch keine vierzehn Tage her, dass Russland, England und Frankreich der Türkei den Krieg erklärt haben, weil die Türkei sich mit Deutschland verbündet hat. Viele hundert Millionen Menschen führen Krieg gegeneinander, aber wird die Welt davon größer – oder kleiner? Die Schiffe liegen still. Die Seeleute fahren nicht mehr hinaus und kehren auch nicht mehr mit Berichten über Neues nach Hause zurück. Wir sitzen hier auf unserer kleinen Insel und werden so dumm wie Bauern.»
    «Das dürfen Sie aber nicht sagen. Da tun Sie den Bauern unrecht.»
    Der Pastor stammte nicht von der Insel. Er hatte das Interesse des Zugereisten an lokalen Besonderheiten, die er wahrscheinlich als unterhaltsame
Kuriosa betrachtete; für diesen Teil der Ausstellung war er verantwortlich. Albert wusste von ihm, dass er an einer Ortsgeschichte der Stadt schrieb; Abildgaard bat ihn gelegentlich um Rat. Sie hatten ein freundschaftliches, wenn auch nicht inniges Verhältnis zueinander, und Albert war schon häufig der Gedanke gekommen, dass der Pastor besser einen ländlichen Pfarrbezirk hätte betreuen sollen als eine Seefahrtsstadt wie Marstal. Der Bauer stand der christlichen Grundanschauung durch seine der Scholle

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