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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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richtige Wort. Als hätte der Tod zusammen mit ihm den Laden betreten.
    Jørgensen tat einen Schritt hinter den Holztresen. Sein Unterkiefer fiel herunter. Er sperrte die Augen in einer Weise auf, die Abildgaard veranlasste, sich umzudrehen, da er glaubte, der Kaufmann hätte durch die offene Tür irgendetwas Schockierendes auf der Straße gesehen. Die beiden alten Kapitäne schauten abwechselnd den Pastor und den Kaufmann an, als erwarteten sie einen Auftritt von ungeheurer Wichtigkeit.
    «Guten Tag», sagte Abildgaard mit unsicherer Stimme, bereits befangen durch die merkwürdig angespannte Atmosphäre.
    Jørgensen antwortete nicht.
    Abildgaard trat an die Ladentheke, um zu bestellen. Jørgensen ging einen weiteren Schritt zurück und streckte die Hände aus. Sein Mund stand noch immer offen. Er sah aus, als hätte er das Atmen eingestellt. Sie starrten sich an, der Kaufmann offensichtlich kurz vor der Bewusstlosigkeit, der empfindsame Abildgaard im Zustand zunehmender Lähmung.
    Die Stille wurde erst unterbrochen, als einer der Skipper von der Bank aus ziemlich weit in eine glänzende Messingschale in der Ecke spuckte. Das Geräusch ließ Jørgensen aus seiner Starre erwachen.
    «Nun ja, so sagen Sie es schon, Mensch, sagen Sie es doch!», brach es aus ihm heraus.

    «Ein Pfund Kaffee. Aber er soll frisch gemahlen werden», sagte Abildgaard mechanisch, während er wörtlich die Ordre seiner Frau wiederholte, als sie ihn in die Stadt schickte.
    Jørgensen schlug die Hände vors Gesicht. Im entfuhr ein merkwürdig prustendes Geräusch, irgendwo zwischen Lachen und Weinen.
    «Kaffee, Kaffee, er will einfach nur Kaffee!», kicherte er hinter dem Gitter seine Hände.
    Er fing unkontrolliert an zu lachen. Er ging zur Kaffeemühle und schüttete Bohnen in eine Tüte. Seine Hände zitterten bei seinem Lachanfall, und er verstreute Bohnen über die Theke und den Boden.
    Dann wurde er ernst.
    «Der Kaffee ist heute gratis, Pastor.»
    Abildgaard war inzwischen empört.
    «Würde mir jemand freundlichst erklären, was hier eigentlich vor sich geht?», fragte er mit der eisernen Stimme, die er auch immer auf der Kanzel verwendete.
    «Es ist nur so, dass Jørgensen glücklich ist», kam es von einem der Skipper auf der Bank hinter ihm.
    Abildgaard sah Jørgensen an und legte all seine Autorität in den Blick.
    «Wenn das hier irgendein Scherz sein soll, will ich Sie nur wissen lassen, dass ich das überhaupt nicht komisch finde.»
    Jørgensen schlug den Blick nieder, während gleichzeitig ein glückliches Lächeln seinen Mund umspielte. Er rieb sich verlegen über seine blanke Glatze, als wollte er sie zu Ehren des Pastors besonders glänzend polieren.
    «Nun ja, der Herr Pastor müssen wirklich entschuldigen. Ich dachte doch, Sie kommen wegen Jørgen.»
    «Jørgen?»
    «Ja, Jørgen, meinem Sohn. Er ist doch Matrose auf der Maagen. Na ja, ich hatte schon Angst, dass Sie kommen, um mir zu sagen, dass man das Schiff torpediert hat und Jørgen … Jørgen … »
    Er schluckte, als ob die gerade überstandene Angst noch immer in ihm steckte.
    «Ja, also, dass Jørgen …» Der Kaufmann räusperte sich. «… untergegangen ist.»

     
    Abildgaard hatte Furcht, sich auf der Straße zu zeigen. Es wurde ihm klar, dass die Menschen glaubten, wann immer er den Pfarrhof in der Kirkestræde verließ, sei er unterwegs, um eine Todesnachricht zu überbringen.
    Sein leichtes, unbeschwertes Gemüt ertrug das nicht. Er war zum Boten des Todes geworden, einem schwarzen Raben mit Mühlsteinkragen, eingesperrt in die niedrigen Stuben der Trauer. In langen Atemzügen rang er nach Luft und meinte, er müsse ersticken, obwohl er doch mit den Hinterbliebenen über die Gnade und den Gedanken der Liebe Jesu sprechen sollte, über Jesu Hilfe durch die Liebe, über seine Auferstehung aus Liebe. Doch er sprach die Worte seltsam hilflos und zögernd aus, als wären sie nicht länger eine Antwort auf die Fragen der Trauernden.
    Schon früher musste er Familien Trost spenden, die einen Vater oder einen Sohn verloren hatten. Nun war es die Zahl der Toten, die es so unerträglich machte. Sie waren so zahlreich wie ein Starenschwarm, der sich zum großen Vogelzug im Herbst versammelt. Sie hingen über der Stadt wie eine Sturmwolke, die die Sonne verdeckt, und wie ein rußigschwarzer Regen aus zerplatzenden Hoffnungen fiel eine Nachricht nach der anderen über den Tod eines Vaters, eines Bruders oder eines Sohnes auf die Dächer der Stadt.
    Pastor Abildgaard

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