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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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nicht verstehen würden, wovon er sprach. Eines Tages hatte er Albert gebeten, sich den Schrumpfkopf ansehen zu dürfen. Er hielt James Cook eine Weile in den Händen, während er den Kopf prüfend hin und her drehte und ihn mit Kennermiene betrachtete.
    «Tja, so haben wir es nicht gemacht», sagte er.
    «Wir?», fragte Albert.
    «Ja», erwiderte Josef, ohne sich irritieren zu lassen. «Wir haben sie stattdessen geräuchert.»
    Er lachte, aber ob aus Abscheu oder aus Zynismus, vermochte Albert nicht zu sagen.
    «Aus dem hier haben sie ja richtig etwas gemacht. Wir sorgten nur dafür, dass sie eintrockneten. Sie sahen aus, als würden sie schlafen. Geschlossene Augen und die Lippen so ein wenig zurückgezogen, dass man einen schmalen, weißen Streifen von den Zähnen sah.»
    Er schaute Albert an. Sein Blick war weit weg, als schwelgte er in Erinnerungen.
    «Über wen sprichst du?», wollte Albert wissen.
    Josefs Aufmerksamkeit kehrte zurück.

    «Die Neger, wen sonst?»
    In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit.
    «Wir mussten uns doch Respekt verschaffen. Es war ein belgischer Kapitän. Er benutzte die Negerköpfe als Zierde für sein Blumenbeet. Jeder nach seinem Geschmack.»
    Wieder lachte er, und dieses Mal hatte Albert den Eindruck, dass aus Josefs Lachen eine gewisse Verlegenheit herausklang. Albert vermutete, dass nicht die Erwähnung der abgeschlagenen Köpfe diese Verlegenheit hervorrief, sondern Josefs Unsicherheit. Es schien ihm, als hätte Josef ihn für einen Verschworenen gehalten, und müsste nun einsehen, dass er sich geirrt hatte.
    Albert starrte seinen alten Schulkameraden an und wusste nicht, was er sagen sollte.
    «Ja, jetzt schaust du mich an.»
    Josefs Stimme war plötzlich scharf geworden.
    «Aber das ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Es war nur zu ihrem Besten. Wir hätten sie doch sonst alle erschießen müssen. Arbeiten wollten sie ja nicht. Ausgestreckt in der warmen Sonne liegen wie die Krokodile im Sand, das konnten sie. Stolz und eitel, sicher. Aber ansonsten ganz wie die Tiere.»
    «Ich dachte, du hast als Lotse gearbeitet.»
    «Ja, Lotse war ich, Hafenkapitän in Boma, commissaire maritime, ich brachte die Lualaba bis nach Matadi auf einem schmalen und schwierigen Flussarm. Vor mir kamen die Ozeandampfer nur bis Boma. Seit damals fahren sie bis nach Matadi. Ich war der Erste.»
    Es lag Stolz in seiner Stimme. Er legte den Kopf in den Nacken und sah Albert in die Augen. Einen Moment wirkte es, als betrachtete er Albert von oben herab, obwohl sie beide saßen und Albert größer war als er. Josef hatte tief liegende Augen, eine vorspringende, gerade Nase und einen Schnurrbart, dessen Spitzen bis über das Kinn reichten. Sein Blick wurde arrogant.
    «Ich war der beste Lotse auf dem Kongo. Ich war Hafenkapitän in Boma, ich war alles Mögliche. Aber das war nicht das Entscheidende. Das Wichtigste ist das hier …»
    Er wies mit einem Zeigefinger auf seine Wange.
    «Die Hautfarbe. Das ist das Entscheidende. Ich war ein weißer Mann.
Und ich war Herr über Leben und Tod. In Afrika war es heiß wie in der Hölle. Aber das ist nichts gegen das Feuer, das du in dir selbst brennen fühlst. Das ist das Geschenk, das Afrika für dich bereithält. Du lernst endlich deine eigene Stärke kennen. Jeder vierte Mann kehrt nicht zurück. Das Fieber rafft ihn dahin – oder die Schwarzen. Aber das ist das Ganze wert.»
    Er beugte sich vor und sah Albert durchdringend an. Aus seinem Blick war die Arroganz verschwunden. Als würde er an Alberts Verständnis appellieren. Seine Stimme bekam etwas Flehendes.
    «Ich habe versucht, es Menschen zu erklären, denen ich hier zu Hause begegnet bin. Aber sie verstehen es nicht. Niemand, der es nicht selbst versucht hat, kann es verstehen. Alles, was du vorher erlebt hast – ist nichts. Alles, was danach kommt – nichts. Durchsichtig, Luftspiegelungen. Du nimmst aus dem Kongo eine einzige Sache mit, und das ist nicht der ganze Plunder, den ich daheim herumliegen habe. Wir hatten ein Lied. Nein, ich singe es dir schon nicht vor.»
    Er räusperte sich, als wollte er seine Stimme vorbereiten.
    «‹Kongo›», deklamierte er. Seine Stimme bebte plötzlich vor Rührung.
    «‹Sogar der Stärkste hat dort den Mund zu halten und sich zum Sterben niederzulegen. Sogar der Härteste und Wildeste ist schnell bei den Ratten. Denn man stirbt wie die Fliegen im Kongo.›»
    Seine Stimme wurde immer eindringlicher, sie klang beinahe rau vor Leidenschaft.
    «Aber ich

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