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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wurde scheu und hielt sich am liebsten innerhalb seines Hauses auf, mit Ausnahme der Sonntage, an denen er die hundert Meter zur Kirche gehen musste, und der Begräbnisse. Sie waren glücklicherweise nicht zahlreicher als gewöhnlich. Nach Hause kamen die Toten ja nicht.
    Stattdessen ging Anna Egidia Rasmussen, die Witwe des Marinemalers Carl Rasmussen, von dem die Altartafel in der Kirche stammte, mit den Todesnachrichten zu den betroffenen Familien. Seit vielen Jahren war sie die Stuben der Trauer gewohnt und empfand eine gewisse Berechtigung für diese Tätigkeit. Sie hatte ihren Mann verloren, als er unter ungeklärten Umständen während einer Reise nach Grönland über Bord fiel. Seither hatte sie von sieben ihrer acht Kinder Abschied nehmen müssen, die alle im Erwachsenenalter gestorben waren. Nur eine einzige Tochter, Augusta Kathinka, lebte noch, allerdings in Amerika.
    Anna Egidia Rasmussen wohnte in der Teglgade, in einem großen Haus mit hohen Fenstern, das ihr Mann entworfen und in dem er auf
dem Dachboden sein Atelier gehabt hatte. Im Viertel um die Teglgade war sie den Familien, die von einem Verlust auf See betroffen waren und sich plötzlich von einem Vater, einem Bruder oder Sohn verabschieden mussten, seit vielen Jahren eine große Hilfe und Trost. Sie besaß eine merkwürdige Gabe. Sie konnte vorweinen, wie jemand vorsingen kann. Es war eine Kunst. Ihr Weinen waren keine Gefühle, die sich unkontrolliert in Tränen verwandelten, wie die meisten glaubten. Es war im Gegenteil eine Art Kanalisation der Gefühle, die sie in die richtige Richtung lenkte. Gelassenheit stellte für sie eine Lebensaufgabe dar. Das war wohl auch notwendig bei einem Nervenbündel wie ihrem Mann. Der Maler Carl Rasmussen mit seinem empfindsamen Gemüt konnte verschlossen und grüblerisch sein. Stundenlang hatte er am Strand gestanden und auf das Meer gestarrt, egal, welches Wetter herrschte, gleichgültig gegenüber seiner Gesundheit. Schließlich musste sie ihn nach Hause bringen, steif gefroren und hustend, während er zwischen den Hustenanfällen darum bat, in Ruhe gelassen zu werden. Hinterher lag er vor Fieber glühend im Bett und klapperte mit den Zähnen. Dann war ihre Gelassenheit gefragt, diese Gelassenheit, die der Grund seiner Vorwürfe war, ihr fehle es an Verständnis für seine Natur, und sie wolle seine Begeisterung und Phantasie nicht mit ihm teilen.
    Die Witwe wurde in vielen Häusern zum Gast Nummer zwei. Zuerst kam der Tod, dann kam sie. Nicht nur bei den vielen Enkelkindern ihrer eigenen Familie, sondern im ganzen Viertel um die Teglgade wurde sie zur Stütze aller. Wenn jemand starb, holte man sie. Sie kam in ihrem zerschlissenen schwarzen Seidenkleid, setzte sich mitten in die Stube, schickte die Erwachsenen fort und nahm die Kinder bei der Hand. Wurde eine Mutter krank und musste ins Krankenhaus, während der Mann auf See war, nahm sie die Kinder zu sich. Immer wieder wurde sie gebeten, bei einer Taufe das Kind zu halten, als hätte sie die Rolle übernommen, sowohl das Tor ins Leben als auch das aus dem Leben zu bewachen.
     
    «Nun ist auch er an der Knochenküste gestrandet», dachte Albert, als er von Pastor Abildgaards Verfall hörte. «Er wusste so gut darüber zu reden, dass es selbst mich ergriffen hat. Aber er kannte sie nicht. Nun kennt er sie. Und jetzt schweigt er.»

    Albert ging in den Pfarrhof und meldete sich zu dem gleichen Dienst wie die Witwe. Er fühlte sich durch seine Träume dazu verpflichtet.
    Er wurde in das Studierzimmer des Pastors geleitet. Abildgaard saß am Fenster und starrte in den Garten. Die Blutbuche stand dort draußen, dunkel und düster, als würde sie Frühjahr und Sommer nicht kennen, sondern in einem ewigen Herbst verweilen, an den Blatträndern bereits schwarz verbrannt vom Frost. Doch die Rosenbeete, der Stolz von Frau Pastorin, blühten.
    Abildgaard erhob sich und gab Albert die Hand. Dann kehrte er an seinen Platz am Fenster zurück. Albert brachte sein Anliegen vor. Lange sagte der Pastor nichts. Er vergrub sein Gesicht in den Händen.
    «Es sind die Nerven …», entfuhr es ihm unvermittelt.
    Seine schmalen Schultern bebten. Er nahm die Stahlbrille ab und legte sie auf den Schreibtisch vor sich. Dann drückte er die Hände in seine Augenhöhlen wie ein Kind, das sich ganz dem Weinen ergibt; Tränen rollten über seine glatt rasierten Wangen.
    «Sie müssen wirklich entschuldigen», stammelte er, «es war nicht meine Absicht … »
    Albert stand auf und

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