Wir Ertrunkenen
ging auf den Pastor zu. Er legte ihm die Hand auf die Schulter.
«Da gibt es doch nichts zu entschuldigen.»
Der Pastor ergriff mit beiden Händen Alberts Hand und hielt sie sich an die Stirn, als wollte er einen Schmerz in seinem Kopf lindern.
Sie schwiegen lange, bis Abildgaard sich ausgeweint hatte. Er setzte die Stahlbrille wieder auf die Nase. Albert wollte sich gerade verabschieden, als er auf dem Schreibtisch des Pastors einen schwarzen Gegenstand entdeckte, der ihn an eine Klaue erinnerte. Aber eine Vogelkralle war es nicht. Eher glich sie einer abgehackten Menschenhand mit fünf Fingern und gelblichen, elfenbeinfarbenen Nägeln.
«Was ist denn das?»
«Ja, genau das ist ja so entsetzlich. Ich weiß nicht, was ich machen soll.»
Abildgaard klang, als überkäme ihn ein neuer Weinkrampf.
Albert nahm den Gegenstand und hielt ihn sich vor die Augen.
«Nein. Sie dürfen es nicht anfassen. Es ist so ekelhaft.»
Es war eine Menschenhand. Albert dachte sofort an den Schrumpfkopf.
Die Konservierungstechnik war eine andere. Die Hand war höchstwahrscheinlich geräuchert und in der Hitze eines Feuers getrocknet worden.
«Woher stammt die?», fragte er.
«Sie kennen doch Josef Isager. Er wird doch der Kongo-Lotse genannt», antwortete der Pastor.
Albert nickte. Josef Isager war vor vielen Jahren Lotse auf dem Kongo gewesen. Er hatte für den belgischen König Leopold gearbeitet und war mit einer Medaille für treue Dienste nach Hause gekommen. Er sprach nicht gern über seine Jahre dort unten, doch die Nachbarn sagten, dass sie bisweilen mitten in der Nacht von lautem Schreien aufwachen würden. Es war Josef Isager. Eines Nachts hatte er im Schlaf das Fußstück seines Betts zertreten. Es hatte einen gewaltigen Schlag getan, als das große Mahagonibett auseinanderfiel und der ehemalige Lotse auf dem Fußboden landete. Er war aufgesprungen und hatte mit den Möbeln um sich geworfen, als wären es Feinde, mit denen er sich in einem Kampf auf Leben und Tod befand. Das Bettzeug, das in einem unordentlichen Haufen auf der Erde lag, war schweißdurchtränkt. Es sei die Malaria, behauptete er selbst.
Albert, der von der Geschichte des nächtlichen Tumults in Josef Isagers Haus gehört hatte, vertrat eine andere Theorie. Es war nicht die Malaria. Josef Isager quälten Albträume über Afrika.
«Und dann kommt er mit einer abgehackten Hand hierher zu mir. Einer Hand – einer Menschenhand! ‹Was soll ich Ihrer Meinung nach damit tun?›, frage ich ihn, als ich die Fassung wiedergefunden hatte. ‹Geben Sie ihr ein christliches Begräbnis›, sagt er. ‹Wessen Hand ist es?›, will ich wissen. ‹Keine Ahnung›, antwortet er. ‹Irgendein Negerweib. Zum Teufel, Pastor!›, sagt er zu mir. Und dann schaut er mich drohend an. Ich sollte Ihnen so etwas möglicherweise nicht anvertrauen, Kapitän Madsen, aber der Mann war mir wirklich unheimlich.»
Albert nickte. Diesen Eindruck hatte auch er vom Kongo-Lotsen. Josef Isager war ein harter Hund. Aber davon gab es viele. Das Leben hatte ihnen Fußtritte versetzt, und sie hatten zurückgetreten. Er, der Sohn des alten Lehrers Isager, und Albert waren zusammen in die Schule gegangen, und Josef war in dem Krieg zwischen den Jungen und ihrem brutalen Quälgeist gefangen, ohne die Seiten wählen zu können. Egal,
auf welche Seite er sich schlug, er war doch ein Verräter. Er hatte seinen Bruder geschlagen, den ewig heulenden Johan. Dann war er zur See gegangen, und niemand wusste, was er dort erlebt hatte. Neue Qualen und neue Opfer, an denen er sich abreagieren konnte, sicher, so wird es gewesen sein. Vielleicht war es ja auch ein Ausweg, hatte Albert gedacht. Schließlich war das Meer diese große Ferne, in der ein Junge die Misshandlungen seiner Kindheit hinter sich lassen und sich selbst neu entdecken konnte.
Wir hatten Josef viele Jahre nicht gesehen. Wir hörten, dass er von Antwerpen aus in den Kongo gegangen war. Er befuhr die großen Flüsse. Dann kehrte er zurück nach Dänemark, kam aber nicht nach Marstal. Er zog wieder hinaus. Afrika war ihm ins Blut übergegangen, wir wussten nicht, warum. Dann endlich kam er zur Ruhe. Er arbeitete als Havarieexperte, zunächst in Kopenhagen, dann in Marstal. Maren Kristine, seine Ehefrau, die er in seiner Jugend geheiratet hatte, stammte hier aus der Stadt. Sie zogen in die Kongegade.
Anfangs sprach er überhaupt nicht über die Jahre in Afrika. Wenn wir ihn fragten, schüttelte er nur abwehrend den Kopf, weil wir ohnehin
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