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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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bin nicht gestorben. Ich habe überlebt. Ja, ich habe überlebt …»
    Er schlug mit der flachen Hand hart auf den Tisch.
    «Nicht wie hier! Das hier ist doch kein Leben!»
    Albert sagte noch immer kein Wort. Er hätte gern weggesehen. Aber sie starrten sich weiterhin an, und Albert erkannte, was in Josefs Blick zu lesen war. Josef hatte gelernt, andere Menschen so anzusehen, wie sonst nur ein Gott schaut. Durfte er Atem holen? Oder verdiente er es zu sterben? Es war dieser Blick, den Josef Isager, Sohn des alten Lehrers Isager, aus dem Kongo mit nach Hause gebracht hatte.
    Nun war Josef ein alter Mann, noch immer derselbe, aber alt, und in Afrika brauchten sie Jugend und Kraft. Josef war nach Marstal zurückgekehrt. Hier war er geboren worden. Nun lebte er hier im Exil. Es gab
niemanden, der sich der Drohung in seinem Blick beugte, abgesehen von Maren Kristine, die eine schweigsame und zu Tode erschrockene Zeugin seines nächtlichen Rasens war.
     
    «Sagte er, warum er die Hand plötzlich begraben lassen wollte?»
    Abildgaard schüttelte den Kopf. «Ich habe ihn gefragt, wie er denn an eine abgehackte Hand gekommen sei. Er meinte, es sei so eine Art Erinnerung, ja, so wie ein Elefantenstoßzahn, ein Halsschmuck oder ein Speer, von solchen Sachen hätte er auch einiges mit nach Hause gebracht. Es sei durchaus normal, erklärte er mir in einem Ton, als würde er über etwas vollkommen Alltägliches sprechen, dass man getöteten Eingeborenen die Hände abhackte. So konnten die belgischen Soldaten beweisen, dass sie keine Patronen vergeudeten. Und bei einer derartigen Gelegenheit sei er in den Besitz der Hand gekommen. Tja, ich wusste nicht, was ich entgegnen sollte.»
    Der Pastor sah Albert ratlos an. «Ich wollte die Hand nicht. Aber er ließ sie hier. ‹Sie sind Pastor›, sagte er, ‹die Toten sind Ihr Gebiet.› Ich bringe es nicht fertig, die Hand wegzuwerfen. Aber ich kann sie doch auch nicht in einen Sarg legen und auf dem Friedhof begraben. Es gibt ja nicht einmal einen Namen. Ich weiß mir wirklich keinen Rat.»
    «Pastor Abildgaard, Sie sprachen in einer Ihrer Predigten von dem Gefühl, dass die Welt sich zurückzieht und die eigene Kraft gerade in dem Moment schwindet, in dem man sie am allermeisten braucht.»
    Abildgaard blickte mit einem überraschten Lächeln auf.
    «Waren Sie da, Kapitän Madsen? Ich freue mich sehr, dass Sie sich so an meine Predigten erinnern. Ja, das war eine sehr gelungene Formulierung.»
    Eigentlich wollte Albert noch mehr sagen, aber nun verstummte er.
    Abildgaard verfiel wieder seiner Verzagtheit.
    «Was soll ich nur mit dieser Hand machen?», jammerte er.
    Erneut blickte er aus dem Fenster, als fände er im Garten eine Antwort auf seine Frage.

    Das Geld strömte weiterhin in die Stadt. Der Frachtmarkt entwickelte sich so gut wie nie zuvor. Das Gleiche galt für die Heuern. Und auch bei den Schiffspreisen setzten sich die unglaublichen Steigerungsraten fort. In manchen Straßen wurde in jedem zweiten Haus getrauert. Und doch schienen sich die wenigen noch verschont gebliebenen Familien ihre heitere Stimmung nicht verderben lassen zu wollen. Frauen in neuen Sonntagskleidern bewegten sich zwischen Witwen in Schwarz. Die Fenster der Händler waren dekoriert, als wäre es bereits Weihnachten. Man sah keinen Leichenzug mit Blumen streuenden Mädchen auf dem Weg zum Friedhof. Die toten Seeleute hielten sich höflicherweise zurück und störten nicht. In diesem Sommer hing der in Blüte stehende Holunder schwer über den Straßen.
     
    Jedes Jahr im Frühling, bevor die Flotte den Hafen verließ, roch Marstal nach Teer. Mit Teerpinseln in den Händen bestrichen die Seeleute die Feldsteinsockel ihrer Häuser, als ob diese genau wie der Kiel ihrer Schiffe geteert und für die jährliche Reise vorbereitet werden müssten. An den Giebeln hingen mit schwarzer Farbe bemalte Zahlen aus Schmiedeeisen und erzählten vom Baujahr des Hauses. 1793, 1800, 1825. Wir hätten mit einem Hammer auf die geteerten Sockel einhämmern können, und die Bemalung wäre in Lagen abgeplatzt wie die Jahresringe eines Baums. Aber die Rechnung ging nie auf. Denn es waren nicht die Jahre, die die Teerschichten zählten – es war die Abwesenheit. Nur wenn die Männer zu Hause waren, wurden die Sockel gestrichen.
    Nun blieben sie fort, einer nach dem anderen, und die Frauen mussten auch diesen Teil der Männerarbeit übernehmen. Als das Frühjahr kam, sahen wir sie schon bald mit einem Teerpinsel streichen, der so

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