Wir Ertrunkenen
schwarz war wie ihre frisch genähten Witwenkleider.
Muntere junge Steuermannsschüler aus der Navigationsschule kurvten mit dem Fahrrad durch die Stadt und taten so, als würden sie die auf der Straße spielenden Kinder überfahren, die mit vorgetäuschtem Erschrecken reagierten. Die jungen Männer waren auf dem Weg zu ihren Pensionen, um in der Mittagspause etwas Warmes zu sich zu nehmen. Alberts Blick wurde starr beim Anblick des einen oder anderen. Er hatte auch sie gesehen. Die U-Boote lagen dort draußen und warteten auf
sie. Sie selbst glaubten, dass Geld und Abenteuer ihre Zukunft seien. Sie hatten das Fieber der Jugend im Blut und fürchteten sich vor nichts. Es war Albert, der ihnen all ihre Ängste abnahm.
Er machte sich seine eigenen Gedanken über den Krieg und seine Ursachen und ging zu dieser Zeit häufiger in die Kirche, allerdings nicht am Sonntag. Die Turmspitze war nahezu fertig. Die neue Verkleidung aus Kupfer wurde angebracht, und im Kirchenschiff dröhnten den ganzen Tag über Hammerschläge. Also kam er erst nach Feierabend. Albert suchte die Ruhe. Hier, hinter den dicken Mauern, in dem kühlen, weißen Raum, in dem es früh dämmerte, als hätte er seinen eigenen Rhythmus im Tagesablauf, hatte er das Gefühl, Zeit zum Denken zu haben.
Er dachte an den Tod. Es gab diejenigen, die sich beklagten, wenn der Tod zu früh kam oder ein Kind holte, eine junge Mutter oder einen Seemann, der eine Familie versorgen musste. Er hatte es nie verstanden. Sicher, es war tragisch für die Hinterbliebenen oder den, der um den größten Teil seines Lebens gebracht wurde. Aber es war nicht ungerecht. Der Tod entzog sich derartiger Kategorien. Es schien ihm, als würden die Hinterbliebenen häufig über den sinnlosen Anklagen des Daseins ihre Trauer vergessen. Es kam ja auch niemand auf die Idee zu behaupten, der Winter sei ungerecht zu den Bäumen und Blumen. Es konnte schon beklommen machen, wenn die Sonne ihr Licht löschte oder ein Schiff durch die Eisschicht eine gefährliche Schlagseite bekam. Aber entrüstet, empört oder zornig sein, nein. Das führte zu nichts. Die Natur war weder gerecht noch ungerecht. Beides war ein Privileg der Menschen.
Albert wusste genau, warum er so empfand. Weil er gleichzeitig an die Vergangenheit und an die Zukunft dachte. Er schenkte nicht dem Einzelnen seine ganze Aufmerksamkeit. Er dachte an die Familie, an das Leben, das sich in Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern fortsetzte, die wiederum zu Vätern und Müttern wurden, die Söhne und Töchter bekamen. Das Leben war wie ein großes marschierendes Heer. Der Tod lief nebenher und griff sich den einen oder anderen heraus, doch das Heer nahm es nicht wahr. Es marschierte weiter, und seine Größe schien sich nicht zu vermindern, im Gegenteil. Es wuchs bis in die Ewigkeit, und daher war auch niemand allein mit dem Tod. Es kam immer
jemand nach. Das allein zählte. So war die Kette des Lebens: unzerbrechlich.
Doch dieser Krieg hatte alles verändert. Er konnte am Hafen spazieren gehen und sehen, dass jetzt nur noch wenige Schiffe untätig am Kai oder an den Duckdalben in der Hafeneinfahrt vertäut lagen.
Noch immer gab es Reeder, die kein Leben aufs Spiel setzen wollten. Die meisten jedoch fuhren hinaus. Es gab Minen, und es herrschte totaler U-Bootkrieg. Sie segelten trotzdem. Sechs Schiffe konnten in einem Monat untergehen, vier im nächsten. Nie hatte das Meer größere Opfer gefordert, doch die Reeder und Kapitäne, die ihre Schiffe im Hafen ließen, wenn ein Sturm tobte, schickten sie in das weitaus stürmischere Wetter des Krieges.
Woher kam diese Todesverachtung, dieser vollständige Mangel an Lernbereitschaft, obwohl zehn gesunkene Schiffe und zwei spurlos verschwundene Besatzungen doch eigentlich Lehrgeld genug sein müssten?
In diesem anderthalb Kilometer langen Hafen, den Hunderte von Schiffen füllten, die ins Winterlager gegangen waren, lag unsere Stadt, schaukelte auf dem Wasser und wartete auf das Frühjahr und den Aufbruch. Es war ein Anblick, den niemand wieder so erleben sollte. Eine Kette war zerbrochen.
Wo war all das geblieben, was er Familie und Einigkeit nannte und wofür er erst vier Jahre zuvor einen Stein errichtet hatte? Damals hatte er geglaubt, er würde einen Gedenkstein errichten. Nun erkannte er, dass es ein Grabstein für die Stadt und den Geist war, der sie geschaffen hatte. Zu Hause in seinem Rechnungsbuch fand sich in der dritten Spalte die Erklärung, nicht nur für
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