Wir Ertrunkenen
Aber wenn man zu lange gelebt hat und dennoch nicht sterben kann, muss man einen Grund finden weiterzuleben. Man ist unnütz, jawohl. Aber immer nur in den eigenen Augen. Es gibt immer jemanden, der einen braucht. Es geht nur darum, ihn zu finden.»
Albert sagte nichts. Fast die gleiche Formulierung hatte er bei Frau Koch benutzt, als er die Mitteilung über den Untergang der Ruth überbringen musste. Doch dass die Worte auch für ihn galten, hatte er so nicht empfunden. Er und Anna Egidia waren verschieden. Sie hatten beide ihre eigene Lebensanschauung. Sie hatte ihre Gründe gefunden, um zu leben. Er hatte seine verloren. Seiner Meinung nach war daran nichts zu ändern.
Sie beugte sich zu ihm.
«Sehen Sie», sagte sie, «ich kenne da einen kleinen Jungen in der Snaregade. Er hat gerade seinen Vater verloren. Seinen Großvater hat er nie kennengelernt. Er starb auf See, lange bevor der Junge geboren wurde. Die Männer der übrigen Familie sieht er im Grunde nie, sie sind ja auf See. Die Mutter stammt aus Birkholm, ihre Eltern sind tot, also auch von der Seite gibt es so gut wie keine familiären Bindungen. Meinen Sie nicht, dass so ein kleiner Junge jemanden brauchen könnte, der ihn hin und wieder zu einem Spaziergang an den Hafen mitnimmt, vielleicht sogar mal mit ihm in einer Jolle rudert und ihn so mit dem Meer vertraut macht?»
«Doch, ich denke schon, dass es ihm guttäte», entgegnete er, unsicher, worauf sie hinauswollte.
Anna Egidia lächelte plötzlich. Es war ein hübsches Lächeln, das ihre schmalen, blutleeren Lippen vergessen ließ.
«Und hier haben wir nun Sie, Kapitän Madsen, einen älteren, erfahrenen Seemann, der herumläuft und sich darüber beschwert, dass er zu nichts auf der Welt mehr nütze sei.»
Ihr Tonfall war spöttisch. Sie machte eine Pause und sah ihn herausfordernd an, als erwartete sie eine Antwort.
«Ja, und?», fragte er begriffsstutzig.
«Begreifen Sie denn wirklich nicht, worauf ich hinauswill?»
Ihr eingefallenes Gesicht wurde bei all dem Lächeln beinahe rund. Albert schüttelte den Kopf. Er kam sich jetzt dumm vor. Sie spielte mit ihm.
«Ich stelle mir nur vor, dass Sie der Mann sind, der den kleinen Jungen an die Hand nimmt und in seiner Gig herumrudert.»
«Aber ich kenne die Familie doch gar nicht. Ich kann mich doch nicht einfach so aufdrängen.»
«Ich versichere Ihnen, die Mutter des Jungen wird Sie nicht anmaßend finden. Im Gegenteil, sie wird dankbar sein und sich geehrt fühlen.»
«Ich habe doch überhaupt keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht.»
Er gab seiner Stimme einen schroffen Klang, um seine Unsicherheit zu verbergen. Plötzlich fühlte er sich verraten. Sie hatte ihm eine Falle gestellt, und er war sehenden Auges hineingetappt. In einem schwachen
Moment hatte er sich einem anderen Menschen geöffnet, weil ihm die Einsamkeit zu viel geworden war. Er hatte geglaubt, sie seien zwei alte Menschen, die zusammensaßen und sich über ihr Leben unterhielten. Aber sie war eine alte Frau und er ein alter Mann, dadurch unterschied sich ihr Gespräch. Alte Männer unterhielten sich über das Meer und die Schiffe, denn das war ihr Leben, doch er hatte noch ein inneres Leben, das er mit niemandem teilen konnte. Mit ihr hatte er es geteilt, doch hinter der Art, die er für Aufgeschlossenheit hielt, verbarg sich die ganze Zeit eine Absicht. Nun hatte sie die Karten auf den Tisch gelegt. Er war lediglich eine Spielfigur ihrer Samaritertätigkeit.
Es war eigentlich nicht der Junge, den er zurückwies, als er aufstand und sich verabschiedete. Es war sie.
«Wollen Sie denn gar nicht wissen, wie er heißt?», fragte sie, als sie ihn in den Flur begleitete.
«Nein», sagte er, «es interessiert mich nicht.»
DER JUNGE
A m nächsten Tag erschien sie mit einem Jungen an der Hand vor seiner Haustür. Albert stand mitten in der Tür und wusste nicht, was er sagen sollte. Er konnte das Alter des Kindes nicht genau schätzen, aber der Bursche war wohl sechs oder sieben Jahre alt. Er hatte helles Haar und abstehende Ohren, die in der Dezemberkälte feuerrot leuchteten.
«Wollen Sie uns denn nicht hereinbitten, Kapitän Madsen?»
Die Witwe lächelte ihn an. Noch am Vortag hatte er die Art, wie das Lächeln ihr Gesicht aufleuchten und es rund und sanft werden ließ, geliebt, nun glaubte er, dass dieses Lächeln falsch war. Er trat zur Seite und forderte sie mit einer Handbewegung auf einzutreten. Dann half er der Witwe aus dem Mantel. Der Junge zog seinen Mantel
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