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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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selbst aus.
    «Sag dem Kapitän guten Tag», sagte die Witwe.
    Der Junge streckte die Hand aus und machte eine steife Verbeugung.
    «Willst du dem Kapitän nicht deinen Namen verraten?»
    «Knud Erik», antwortete der Junge und schaute noch immer verlegen zu Boden. Er war mitten in seiner Verbeugung stecken geblieben.
    Irgendetwas an der Verlegenheit des Jungen rührte Albert.
    «Wie alt bist du denn?», fragte er ihn.
    «Sechs Jahre», antwortete der Junge und wurde rot.
    «Bleiben wir doch nicht hier im kalten Flur stehen.»
    Er führte sie ins Wohnzimmer und rief seine Haushälterin.
    «Kaffee?»
    Die Witwe nickte.
    «Ja, danke.»
    «Und was trinkst du?»

    «Ich habe keinen Durst», sagte der Junge und errötete noch mehr.
    «Aber einen Keks möchtest du doch bestimmt?»
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    «Nein danke. Ich habe keinen Hunger.»
    Er zog die Schultern hoch und versuchte, sich unsichtbar zu machen.
    Albert nahm eine hellrote Muschel vom Fensterbrett.
    «Hast du schon mal eine so große Muschel gesehen?»
    «Wir haben eine zu Hause», sagte der Junge.
    «Und wo kommt die her?»
    «Vater hat sie mitgebracht.»
    Die schmächtigen hochgezogenen Schultern des Jungen sahen aus wie zwei Vogelflügel. Er biss sich auf die Unterlippe und starrte auf den Perserteppich, als wäre er höchst interessiert an dessen verschlungenen Arabesken. Er zitterte ein wenig.
    Albert wurde verlegen und warf der Witwe einen Blick zu. Sie schüttelte stumm den Kopf. Er fühlte sich dumm.
    «Vielleicht habe ich etwas, was du noch nicht gesehen hast», meinte er, um die Stille zu unterbrechen. «Komm her.»
    Er nahm den Jungen bei der Hand und führte ihn nach nebenan in sein Kontor. Im Fenster stand ein Holzmodell der Princess. Es war ein großes Modell, über einen Meter lang und beinahe ebenso hoch. Albert trug es vorsichtig ins Wohnzimmer und stellte es dort auf den Boden.
    «Ich lasse eigentlich niemanden damit spielen, aber du darfst es, wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein.»
    «Ja, natürlich.»
    Die Haushälterin kam mit dem Kaffee, und Albert setzte sich der Witwe gegenüber. Der Junge war dabei, den Anker zu untersuchen. Dann drehte er vorsichtig das Ruder. Er schob die Princess langsam über den Teppich. Mit beiden Händen am Rumpf, schaukelte er das Schiff von einer Seite zur anderen, wobei er das Geräusch der Wellen und das Sausen des Windes im Rigg nachahmte.
    Albert behielt ihn im Auge. Als er bemerkte, dass der Junge ganz in sein Spiel vertieft war, wandte er sich der Witwe zu.
    «Ich sagte Ihnen doch, dass ich von Kindern keine Ahnung habe.» Frau Rasmussen lachte.

    «Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken. Betrachten Sie ihn bloß als einen von der Mannschaft. Den Jüngsten. Und dann seien Sie Kapitän, so wie Sie es gewohnt sind.»
    «Wieso sollte es ihm gefallen, Zeit mit einem so alten Mann wie mir zu verbringen?»
    «Es wird ihm gefallen. Für ihn werden Sie der Herrgott persönlich sein. Erzählen Sie ihm einfach von Ihren Reisen und Erlebnissen, und Sie werden in ihm einen Zuhörer finden, wie Sie noch keinen gehabt haben. Und nun hören Sie auf mit all den Einwänden, denn jetzt bekommen Sie keine Komplimente mehr.»
     
    Am nächsten Tag holte er Knud Erik ab. Er wohnte in der Snaregade, im Süden, wie es bei uns heißt. Klara Friis war schwanger, und bis zur Geburt konnte es nicht mehr lange dauern. Ihr Körper wirkte groß und schwer unter dem schwarzen Tuch, das sie sich umgehängt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sie schon irgendwann einmal gesehen hatte, und das überraschte ihn. Marstal war eine kleine Stadt, und obwohl er schon so lange hier lebte, kannte er sie nicht mehr.
    Sie lud ihn zum Kaffee ein, aber er lehnte ab. Er mochte niemandem zur Last fallen. Außerdem wollte er es hinter sich bringen. Noch immer hatte er das Gefühl, verführt worden zu sein, und sein Ärger über die Witwe Rasmussen war noch nicht verflogen.
    Der Junge lief schweigend neben ihm her. Sie gingen hinunter zum Hafen, es war ein klarer Tag mit weitem Himmel und Sonnenschein. Der Junge trug keine Handschuhe, seine Hände waren rot vor Kälte.
    «Was hast du denn mit deinen Handschuhen gemacht.»
    «Verloren.»
    Sie gingen die Havnegade bis zur Dampskibsbro, standen dort wortlos nebeneinander und schauten über das Wasser. Eine dünne Eisschicht hatte sich im Lauf der Nacht darübergelegt. Die Sonne schlug Funken im Raureif. Albert wusste nicht, was er mit dem Jungen reden sollte. Worüber

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