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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sprach man mit Kindern? Er spürte, wie der Ärger in ihm wieder aufstieg.
    «Komm», sagte er zu dem Jungen, der aussah, als wäre er angesichts des gefrorenen Wassers in Gedanken versunken. Sie gingen weiter den Kai entlang, am Kohlenlager vorbei, hinunter zur Prinsebro.

    «Wie ist das, wenn man ertrinkt?», fragte der Junge.
    «Man bekommt den Mund voller Wasser, bis man schließlich nicht mehr atmen kann.»
    «Bist du schon mal ertrunken?»
    «Nein», sagte Albert, «wenn man ertrinkt, stirbt man. Aber ich bin ja noch da.»
    «Ertrinken alle am Ende?»
    «Die meisten ertrinken nicht.»
    «Mein Vater ist ertrunken», sagte der Junge in einem Ton, als lieferte diese Todesart einen Anlass, besonders stolz auf seinen Vater zu sein.
    Dann wurde seine Stimme unsicherer.
    «Wenn wir ertrinken, kommen wir dann nie wieder zurück?»
    «Ja, dann kommen wir nie wieder zurück.»
    «Meine Mutter sagt, Vater ist zu einem Engel geworden.»
    «Und du sollst auf das hören, was deine Mutter sagt.»
    Albert spürte ein steigendes Unbehagen bei diesem Gespräch. Er fürchtete, dass der Junge plötzlich anfangen würde zu weinen, dann hätte er keinen anderen Rat gewusst, als mit ihm wieder nach Hause zu gehen. Aber das ging nicht. Er konnte nicht mit einem weinenden Kind zurückkommen. Das wäre eine Niederlage, genau wie der Verlust der Fracht oder der Untergang eines Schiffs. Er versuchte, die Aufmerksamkeit des Jungen abzulenken. Der Hafen war voller Schiffe. Einige ließen die Eigner wegen des Krieges nicht auslaufen, andere waren über den Winter zurückgekommen. Momentan sah es nicht so aus, als wäre Marstals Zeit als Seefahrtsstadt allmählich vorbei.
    Albert deutete auf die Schiffe.
    «Willst du mal Seemann werden?», fragte er den Jungen und bereute die Frage sogleich.
    «Ertrinke ich dann, so wie mein Vater?»
    «Die meisten Seeleute kommen wieder nach Hause. Dann werden sie alt, so wie ich, und sterben schließlich in ihrem Bett.»
    «Ich möchte Seemann werden, wie Vater», erklärte der Junge. «Aber ich habe keine Lust zu ertrinken und von einem Fisch gefressen zu werden, und ich will auch nicht in meinem Bett sterben, denn das ist dazu da, um darin zu schlafen. Gibt es denn keine Möglichkeit, dem Tod zu entwischen?»

    «Nein», erwiderte Albert, «gibt es nicht. Aber du bist noch so klein. Du hast noch so viele Jahre zu leben. Das ist so gut wie entwischen.»
    «Willst du gern sterben?»
    «Das macht nichts. Ich bin so alt. Es ist egal, ob ich sterbe.»
    «Dann bist du nicht traurig darüber?»
    «Nein, ich bin nicht traurig.»
    «Mutter ist traurig. Sie weint die ganze Zeit. Dann tröste ich sie.»
    «Du bist ein guter Junge», sagte Albert.
    Er zeigte über das Wasser.
    «Sieh mal, da liegt ein Dampfer. Wenn du Seemann wirst, dann fährst du bestimmt auf einem Dampfer.»
    «Können Dampfer nicht sinken?», fragte der Junge.
    Albert schaute auf den schwarz bemalten Rumpf des Schiffs. Erindring stand in weißen Buchstaben auf dem Steven.
    «Doch», sagte er, «das können sie schon.»
    Er hatte die Erindring in einem seiner Träume untergehen sehen. «In einem Dampfer brennt ganz unten immer ein Feuer; das ist so heiß wie eine Waschküche, wenn der Kessel angefeuert ist. Dort füttern Männer das Feuer, Tag und Nacht. Die sehen niemals die Sonne oder den Mond. Sie kommen nur herauf, um zu essen oder zu schlafen. Aber hoch oben im Ruderhaus steht der Steuermann, die Hände am Ruder, und führt den Dampfer sicher über das Meer.»
    «Der will ich sein», sagte der Junge.
    «Ja, der sollst du auch sein. Aber dann musst du in der Schule gut zuhören. Sonst kommst du nicht auf die Navigationsschule.»
    Sie hatten den Hafen für die Beiboote hinter sich gelassen und gingen ein Stück weiter an den Werften der Holzschiffe vorbei. Regelmäßige Hammerschläge drangen durch die rot bemalten Bretterwände der Werftgebäude. Nur in dem neu errichteten Gebäude der Marstaler Stahlschiffswerft an der Buegade war es still. Ingenieur Henckel prahlte bei seinen Besuchen mit all den Aufträgen, die er aus Norwegen mitgebracht hatte. Doch noch war nichts geschehen.
    Der Junge schien in Gedanken versunken. Er blickte zu Albert auf. «Wie sieht das aus, wenn ein Dampfer sinkt?»
    Albert kramte in seinen Erinnerungen. Er hatte es nie real gesehen,
doch seine Träume hatten ihm in allen Details gezeigt, wie die Erindring kenterte und in den Wassermassen verschwand.
    «Aus dem Inneren des Rumpfs ist das Geräusch von Explosionen zu

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