Wir Ertrunkenen
Steuermannspatent und besaßen Anteile an einem Schiff. Hier war es Liebe auf den ersten Blick gewesen oder vielleicht auch einfach Leichtsinn.
Wenn ein Mensch es in seinem Leben nicht weit brachte, hatte Albert es immer als einen Beweis mangelnder persönlicher Tüchtigkeit angesehen. Nun ging ihm auf, dass es auch andere Gründe haben konnte. Er sah es an der Mutter des Jungen und ihrer Scheu. Woher kam diese Lähmung in der Nähe der Vornehmen? Denn vornehm war er in ihren Augen. «Das sollten Sie nicht …» und «Das ist zu viel …» oder «Sie müssen wirklich nicht …» Über ihre Lippen kamen nur halb erstickte Sätze. Die Augen waren stets auf den Boden oder den Säugling gerichtet. Ihr Gebaren hatte seine Wurzeln in der Verhaltensweise von Generationen. Sie war von einem anderen Menschenschlag als er, keinem untüchtigen, sondern einem, der durch Mechanismen ausgegrenzt wurde, die kaum zu übersehen waren.
Alles wirkte sauber und ordentlich, im Fenster standen Geranien und Goldlack. Doch die Möbel waren ein zufälliges Sammelsurium, und an den Wänden hingen keine Bilder. Stattdessen beulten große feuchte Flecken die Tapete aus. Dagegen half auch Reinlichkeit nicht. Die Feuchtigkeit kam aus den Mauern und lag an der schlechten Bauweise des Hauses. Man hatte es für die Armen errichtet. Besonders nachlässig war man beim Bau des Hauses nicht vorgegangen – das ganze Haus bestand ganz einfach aus Nachlässigkeit.
Im Winter herrschte in den Kammern entweder bittere Kälte, oder es war wie in einem Treibhaus, je nachdem, ob man sich Koks leisten konnte. Entweder stand einem der Atem in weißen Wolken vor dem Mund,
oder man saß in einem Dampfbad aus Feuchtigkeit und Hitze, wenn der übervolle Kachelofen in seiner Ecke glühte. Kam er den Jungen unangemeldet holen, war Ersteres der Fall. Wenn sie ihm aber vorab eine Einladung zum Kaffee hatte zukommen lassen, war Letzteres die Regel – beides gleichermaßen ungesund und unangenehm.
Noch nie hatten sie sich ernsthaft miteinander unterhalten. Ihre Scheu lag wohl an ihrer Dankbarkeit. Doch ihm in die Augen zu schauen und etwas zu sagen, was von Herzen kam, konnte sie nicht. Immer gab es diese Kluft.
Als das Meer zufror, nahm Albert Knud Erik zu einem Spaziergang zwischen den eingefrorenen Schiffen mit aufs Eis. Es gab kleine Holzbuden, in denen Apfelscheiben und heißer Holundersaft verkauft wurden. All die Menschen, die ihre Schlittschuhe ausprobieren wollten, sorgten für guten Umsatz; durch die klare Winterluft schallten muntere Rufe. Albert brachte dem Jungen bei, die verschiedenen Schiffstypen zu unterscheiden. Es gab kleine Frachtsegler und Galeassen mit runden, bauchigen Formen und flachem Achterspiegel. Es gab die vielen unterschiedlichen Schonertypen, den Gaffelschoner, den Toppsegelschoner und den Bramsegelschoner. Es gab auch eine Schonerbrigg und große Barkentinen, für die sich der Junge am meisten begeisterte; es hatte wohl etwas mit ihrer Größe zu tun. Die Anordnung der Segel zu begreifen war für den Jungen schon eine etwas schwierigere Angelegenheit, zumal jetzt, da die Schiffe ohne Segel im Hafen lagen und nur die gegen den Winterhimmel schwarz gezeichneten Striche der Rahen und Takelagen das Geheimnis verrieten.
«Es ist wie in der Schule, wenn du lesen lernst», erklärte Albert, «die Anordnung der Segel ist das ABC des Seemanns.»
«Erzähl eine Geschichte», erwiderte der Junge.
Dann erzählte Albert eine Geschichte. Er nahm sie aus seinem Leben oder aus seinen Träumen. Es machte für den Jungen keinen Unterschied und mit der Zeit auch nicht mehr für ihn. Als würde etwas, das gewaltsam abgetrennt worden war, wieder zusammenwachsen.
Hin und wieder verfolgte der Junge mit den Augen die Schlittschuhläufer, und Albert sah, dass er mit seinen Gedanken woanders war.
«Kannst du Schlittschuh laufen?», wollte Albert wissen.
Der Junge schüttelte den Kopf.
«Tja, dann müssen wir zusehen, dass wir es dir beibringen.»
Ihre Ausflüge endeten immer zu Hause bei Albert in der Prinsegade. Dort wurde der Junge vor den Kachelofen gesetzt. Die Holzstiefel hatte er im Flur abgestellt. Nun zog er die Wollstrümpfe aus und wackelte mit den roten Zehen in der Hitze des Ofens. Albert stellte seine Stiefel neben Knud Eriks. Im Winter kam es vor, dass er noch immer Laurids’ alte Stiefel trug, da es in ihnen genügend Platz für ein zusätzliches Paar Wollsocken gab. Nun standen sie mit ihren halblangen Lederschäften und den
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