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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dicken eisenbeschlagenen Sohlen neben Knud Eriks Stiefeln.
    Die Haushälterin kam mit heißer Schokolade und frisch geschlagener Sahne. Albert saß am Tisch und zeichnete. Er war ein guter und penibler Zeichner, und in seinen Zeichnungen hielt er detailliert die Takelage und Anordnung der Segel bei den verschiedenen Schiffstypen fest. Es gab Möwen und guten Wind. Die Schiffe krängten ein wenig, so dass sich das Deck übersehen ließ. Hinter dem Ruder stand ein Männchen von der Größe eines Streichholzes und rauchte eine Pfeife. Es gab eine Kombüse, Lukendeckel und Luken. Vor die Schiffe zeichnete er immer eine Spirale.
    «Was ist das?», fragte ihn der Junge eines Tages.
    «Das ist ein Strudel.»
    «Was ist ein Strudel?»
    «Das ist ein Wirbel im Meer, der alles in die Tiefe saugt. Gleich wird das Schiff verschwunden sein.»
    Der Junge blickte zu ihm auf. Dann zeigte er auf das Streichholzmännchen hinter dem Rad.
    «Der Steuermann rettet das Schiff. Er segelt es einfach woanders hin.»
    «Kann er nicht», sagte Albert, «es ist zu spät.»
    Der Junge starrte auf die Zeichnung des zum Tod verurteilten Schiffs. In seinen Augen standen Tränen.
    «Das ist ungerecht», brach es aus ihm heraus.
    Mit einer raschen Bewegung griff er nach der Zeichnung und begann sie in Stücke zu reißen. Albert wollte seinen Arm packen, dann besann er sich.

    «Entschuldige», sagte er.
    «Das machst du immer», sagte der Junge, «immer zeichnest du diesen …»
    Ihm fiel das Wort nicht ein.
    «Den da. Wieso machst du das?»
    «Ich weiß es nicht», antwortete Albert, und ihm wurde klar, dass er die Wahrheit sagte. Er hatte nie darüber nachgedacht, warum er jedes Mal, wenn er ein Schiff zeichnete, auch einen Strudel vor den Steven setzte. Die Spirale kam einfach mit einer unwiderstehlichen Kraft aus seinem Bleistift. Er zog seine Striche nach einem geheimen Diktat, das nur sein Bleistift hören konnte, nicht einmal er selbst.
    «Es ist schade um die schönen Schiffe», meinte der Junge.
    «Ja», sagte Albert, «es ist schade im die schönen Schiffe. Aber ihre Zeit ist vorbei. Die Zeit der Segelschiffe ist vorbei.»
    «Es sind doch aber jede Menge Segelschiffe im Hafen», wandte der Junge ein.
    «Tja, das ist richtig. Aber es will ja niemand mehr Seemann werden.»
    «Ich schon», sagte der Junge, «ich werde Seemann.»
    Er drehte sich um und sah Albert trotzig an.
    «Genau wie mein Vater.»

    Knud Eriks Mutter wurde nach und nach ein wenig unbefangener. Die Gram wich aus ihrem Gesicht, und Albert hatte den Eindruck, dass das Leben sie zurückrief. Ihr Mann war tot, doch sie hielt ein lebendiges Kind in ihren Händen, und mit der Zeit musste die Waagschale von der einen auf die andere Seite zurückpendeln. Das Kind – ein Mädchen, das von Pastor Abildgaard auf den Namen Edith getauft wurde – brauchte sie, für Trauer gab es keinen Platz mehr. Sie sprach deshalb nicht häufiger, doch ihr Blick war nicht mehr ganz so starr auf den Boden gerichtet.
    Es war Knud Erik, der das Eis zwischen ihnen brach. Albert gegenüber hatte er seine Scheu längst abgelegt. Ein wenig war davon noch
zu spüren, wenn sich die Mutter in der Nähe befand – als würden die Mutter und Albert zwei völlig verschiedene Welten repräsentierten, zwischen denen er unmöglich eine Brücke zu schlagen vermochte. Nun berichtete er aber mit lauter, aufgeräumter Stimme über die vielen Abenteuer, die er an diesem Tag erlebt hatte. Anfangs bedeutete die Mutter ihm noch, still zu sein, doch da sie selbst nichts zur Unterhaltung beizutragen hatte, endete es schließlich damit, dass er zu Wort kommen konnte.
    Hin und wieder bemerkte Albert, dass sie ihn verstohlen ansah. Sie schlug dann sofort den Blick nieder.
    Ihr Gesicht war nicht mehr verschwollen, und die Haare hatten wieder ihren alten Glanz. Auch zog sie sich recht hübsch an, wenn er zu Besuch kam. Da war er wieder, der Standesunterschied, dachte Albert. In vornehmer Gesellschaft hat man sich hübsch anzuziehen.
    «Ich kann jetzt auf Schlittschuhen stehen, und Kapitän Madsen will mir Rudern und Schwimmen beibringen. Dann ertrinke ich nicht und werde ein guter Seemann.»
    Diese Proklamation wurde eines Tages verkündet, als sie in der Stube bei ihrem obligatorischen Kaffee saßen.
    Die Stimme der Mutter nahm einen scharfen Ton an, und ihr Gesicht bekam einen harten Ausdruck unter der weichen Fülle der Wangen.
    «Ich will solches Gerede nicht hören! Du wirst kein Seemann!» Knud Erik schaute zu Boden.
    «Los,

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