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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Stirn. Dann lachte sie plötzlich hinter vorgehaltener Hand.
    «Ich habe noch nie Wein probiert.»
    «Einmal ist immer das erste Mal. Also bis heute Abend.»
     
    Als er das Haus verließ, bemerkte er Hermans kräftige Gestalt. Er hatte seine Mütze in die Stirn gezogen und lief mit hastigen Schritten in Richtung Hafen. Unter dem Mützenschirm blickte er auf und warf einen prüfenden Blick auf das Haus, das Albert gerade verlassen hatte; dann sah er Albert und grüßte ihn lässig mit einem Finger am Mützenschirm. Albert grüßte zurück, allerdings wurde kein Wort zwischen den beiden Männern gewechselt.
    Albert ging in Richtung Kirkestræde, wobei er über den Blick nachdachte, den der junge Mann ihm gerade zugeworfen hatte. Beobachtete er ihn? Ahnte er etwas? Dann zuckte er mit den Achseln. Was war denn das für ein Blödsinn? Es war doch nichts passiert zwischen ihm und Knud Eriks Mutter. Aber die Einladung zum Abendessen? Der Wein? Es war noch nicht so lange her, dass er eine weinende Witwe in seinen Armen gehalten hatte. Nun hatte ein beinahe koketter Ton zwischen ihnen geherrscht, als sie über den Wein sprachen. Ihr Lachen hinter der vorgehaltenen Hand. Verliebte sie sich etwa in ihn? Oder war es umgekehrt? Interpretierte er alles in einem besonderen Licht, weil sie es ihm angetan hatte?
    Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Allein schon den Gedanken fand er unpassend. Er kannte nicht den genauen Altersunterschied zwischen ihnen. Doch er war groß. Er könnte nicht nur ihr Vater, sondern sogar ihr Großvater sein.
    Er hatte sein Leben und seine Kreise. Die wollte er nicht gestört sehen. Er hatte mehr gesehen und gehört, als er brauchte. Seine nächtlichen Träume hatten ihn bis in die Grundfesten erschüttert. Er hatte sie als einen grausamen und boshaften Punkt erlebt, den ein Gott in sein Leben setzte, dessen Unbarmherzigkeit ihn abstieß und der ihm weder das Bedürfnis vermittelte zu glauben noch um Gnade zu bitten. Der Glaube, den er einmal gehabt hatte, der Glaube an die Menschen, war verloren gegangen. Er war verendet wie ein schwer verletzter Schiffbrüchiger an der Knochenküste am Ende der Welt.
    Aber dann hatte sein Leben unerwartet neu begonnen. Es war ein siebenjähriger
Junge, der ihm den Glauben zurückgegeben hatte. Nun war die Mutter des Jungen dazugekommen, und die Verlockungen dieses neuen Lebens erschienen ihm anziehender als je zuvor. Er konnte nicht abstreiten, dass er in der Nähe von Klara Friis eine sonderbare Erregung empfand. Knud Erik hatte die erste Bresche in diese Mauer der Einsamkeit geschlagen, hinter der er lebte. Wenn Klara da war, hatte er das Gefühl, als wäre die gesamte Mauer im Begriff einzustürzen.
    Ja, es war unschicklich. Und doch konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.
     
    Am späten Nachmittag saß er in seiner Badewanne und bereitete sich auf das Abendessen vor, als er eine Art Stich in seinem Herzen spürte. Ein weniger stolzer und unbeugsamer Charakter als er hätte es Angst genannt. Wieder kreisten seine Gedanken um Klara Friis. Bei den Leuten gab es dieses Moralinsaure. Was würden sie wohl sagen, wenn sie ihn plötzlich mit einer Frau zusammen sahen, die so viel jünger war als er? Das Monster O’Connor hatte mit seinen Fäusten zugeschlagen, aber man konnte einem Mann auch auf andere Weise Schaden zufügen. Die Zunge war vielleicht die gefährlichste Waffe. Wurde er vor den Gerichtshof des Klatsches gezerrt, gab es keine Berufung. Hier bedeutete das Gesetz gar nichts.
    Aber konnte es ihm nicht egal sein? Er hatte in seinem Leben mehr als genug getan. Er hatte sich Achtung erworben. Er hatte eine Flotte von Schiffen aufgebaut. Seine Arbeit war beendet. Aber er lebte weiter – und gab es denn in diesem Nachleben nicht auch eine neue Freiheit?
    Er stieg aus der Badewanne und begann sich abzutrocknen. Er schaute zum Spiegel, der vom Dampf des heißen Wassers beschlagen war, und rieb mit dem Handtuch ein rundes Bullauge in die matte Fläche, um sich betrachten zu können. Er hatte seinen Körper selten mit den Augen anderer gesehen. Für ihn war es ein Arbeitsgerät. Stärke und Ausdauer waren der Maßstab, den er anlegte, egal, ob er an Deck eines Schiffs stand und gegen die See kämpfte oder seine harten Muskeln einsetzen musste, um sich bei Männern Respekt zu verschaffen, die ihren Platz nicht kannten. Wie lange konnte er sich wach halten, wenn ein Sturm seine ständige Anwesenheit auf Deck erforderte? Wie groß war die Autorität, die er

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