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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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ausstrahlte?
    Im Spiegel sah er, dass sein Brustkorb eingefallen war und sich lange
Hautfalten von den Schultern zu den schlaffen Muskeln zogen, die ihr eigenes Gewicht nicht länger tragen konnten. Das gekräuselte Haar, das seine Brust bedeckte, war schon seit vielen Jahren grau. Bekleidet erschien ihm sein Körper noch genauso stramm wie früher.
     
    An einem Sommerabend hatte er Cheng Sumei in ihrer großen Vorstadtvilla in Le Havre geliebt und nicht gewusst, dass es das letzte Mal sein sollte. Es war ein Abend wie so viele andere gewesen. Die Flammen der Wachskerzen, die an diesem windstillen Abend senkrecht brannten, dufteten nach Weihrauch. Sie hatte sich über ihn gebeugt und ihn den Seidenkimono lösen lassen, der sich öffnete und ihren nackten Körper entblößte, so weiß wie die Kronblätter der chinesischen Baumrose, mit einem ganz schwachen Glanz von etwas, das er nicht gelblich nennen wollte, sondern eher cremefarben. Ihre Haut war glatt wie bei einer polierten Jadefigur. Er verstand dieses Mysterium nicht, das er nicht mit dem Fernen Osten verband, sondern mit ihr: Sie alterte nicht. Nur ein paar Linien um ihren Mund wurden in der Zeit, in der er sie kannte, markanter und verrieten eine reife Frau. Wie nachgezogene Striche auf einer Zeichnung. Sie waren da, um ihre Schönheit zu betonen.
    Cheng Sumei band ihr langes Haar auf und ließ es vornüberfallen. Er verschwand in der Dunkelheit ihrer dichten Haarpracht. Das war der Auftakt ihres Liebesakts, jedes Mal. Er schloss die Augen und ergab sich ihren Händen, die ihm sanft über die Wangenknochen strichen. Dann drückte sie ihre Lippen auf seine.
    Am nächsten Morgen wachte sie nicht auf. Mit ihrem schwarzen Haar, das sich über das weiße, bestickte Kopfkissen ausbreitete, lag sie da wie Dornröschen. Sie starb, als hätte sie nur ihr Gesicht abgewandt und woanders hingesehen, niemals gealtert, ohne jede Krankheit, und doch war ihr Leben zu Ende.
    Cheng Sumei ging fort. Genau so hatte er es sich vorgestellt: Sie war mitten in der Nacht aufgestanden und fortgegangen, fort von ihm. Er schaute auf ihren toten Körper auf dem Laken, als wäre es ein Kimono, den sie abgelegt hatte. Lange wartete er jede Nacht darauf, das wohlbekannte Knistern der Seide zu hören, wenn sie sich vor ihm auszog. Er schloss die Augen, obwohl es im Zimmer dunkel war, und wartete auf die Berührung ihrer Hände, wenn sie sie über sein Gesicht gleiten ließ.

    Tagsüber arbeitete er hart. Aber in der täglichen Arbeit fand er keine Abwechslung, keine Fluchtmöglichkeit. Denn auch in der Arbeit hatten sie sich nahegestanden. Er hatte sie ins Maklerkontor begleitet, abends hatten sie die Telegramme und Zeitungen mit nach Hause genommen. Dann sprachen sie über Frachtraten und die politischen Ereignisse überall auf der Welt.
    Er lernte von ihr. Und sie lernte von ihm. Er kannte ja die See aus erster Hand, und wenn es Probleme mit der Mannschaft gab oder sie unzufrieden mit den Dispositionen eines Kapitäns war, traf er die Entscheidungen. Betraf es die Frage eines neuen Marktes, der sich ihnen eröffnete, entschieden sie beide, nach langen Überlegungen. Sie fanden in ihrem Maklergeschäft zu einer Gemeinschaft, und das war im Grunde das stärkste Band zwischen ihnen.
    Er erinnerte sich noch immer an den Augenblick, an dem er sich in sie verliebte. Luis Presser hatte ihn zum Abendessen in seine Villa eingeladen, in der er später so viele Nächte zubringen sollte. Bei Tisch hatte er sie fasziniert angestarrt, musste sich zwingen, die Augen abzuwenden und der Konversation am Tisch zu folgen, die auf Englisch geführt wurde. Nach einer Weile empfand er es selbst als auffällig, ja geradezu peinlich, dass er sich überhaupt nicht an sie wandte oder in ihre Richtung sah, abgesehen von den verstohlenen Seitenblicken. Wenn er etwas fühlte, dann war es Ehrfurcht. Ihre Schönheit hatte etwas Durchsichtiges, das sie in seinen Augen geheimnisvoll erscheinen ließ, geradezu überirdisch. Er erwartete überhaupt nicht, dass sie sich mit so profanen Dingen abgab, wie den Mund aufzumachen und zu sprechen, und daher erschrak er regelrecht, als sie das Wort an ihn richtete. Wie ein frommer Mensch, wenn die Lippen der Götterstatue, vor der er kniet, sich plötzlich teilen und der Gott ihn jovial grüßen würde.
    «Monsieur Madsen, möchten Sie, dass ich Ihnen von dem Moment erzähle, in dem ich mich in den Westen verliebt habe?», fragte sie.
    Sie sprach seinen Namen mit einem starken

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