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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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eine Weile. Doch er lernte nichts. Er ging nicht als ein besserer Liebhaber. Er blieb der gleiche plumpe, ungeschickte, aus lauter Unsicherheit ziemlich brutale Mann, wenn es um andere Frauen ging.
    Mit Cheng Sumei war es wie bei den Bordellbesuchen seiner Jugend. Im Schlafzimmer war sie sein dienstbarer und doch überlegener Geist. Er wurde einen Augenblick lang wieder zu seinem jugendlichen Ich während eines Bordellbesuchs. Ob er ein guter Liebhaber wurde, wusste er nicht. Die Begierde war nie zu einem fordernden Begleiter geworden, dem es gelang, einen Platz in seinem Leben einzunehmen. Es war nicht
der Liebesakt, den er in seinen durchwachten Nächten vermisste, sondern ein Mensch.
     
    Albert trocknete sich ab und ließ eine Hand durch das kurze gestutzte Haar gleiten, das trotz der Feuchtigkeit im Badezimmer bereits anfing zu trocknen. Er holte eine Schere und begann, sich den Bart zu trimmen. Er studierte sein Gesicht im Spiegel und überlegte, was er wohl in Klara Friis geweckt haben könnte. Sein Alter und seine Position gaben Sicherheit. Sicherlich suchte sie die. Er hatte die Dankbarkeit in ihrem Blick gesehen, als er ihrer Beschreibung der Sturmflutnacht auf Birkholm lauschte.
    Was wollte er von ihr? War es ausschließlich Eitelkeit? Er fand sie nicht sonderlich hübsch. Aus ihrem Gesicht waren die Spuren des Kummers verschwunden, die es aufgequollen und ausdruckslos hatten erscheinen lassen. Sie kleidete sich mit größerer Sorgfalt als früher. Das Unförmige hatte sie abgelegt, und er bemerkte, dass sie eine zierliche Figur besaß. Aber das war es nicht, was ihn anzog. Es war auch nicht ihre Persönlichkeit. Er kannte sie ja im Grunde gar nicht. Sie sprach nur wenig und wenn, dann mit einer Zurückhaltung, die von einem Standesunterschied zeugte, über den sie sich beide allzu bewusst waren. Etwas ganz Unpersönliches hatte dieses Gefühl in ihm erweckt, und noch zögerte er, es als Begierde anzuerkennen. Nein, es war nicht sie. Es war nicht einmal die Frau in ihr. Es war die Jugend, eine ganz elementare Naturkraft, die mit dem Sommer in ihr erwacht war; ein letzter Abglanz von dem, was sie einmal gewesen war, bevor Geburten und Armut an ihr zehrten und sie Trauer tragen musste. In gewisser Weise war es sein Werk. Es war seine Aufmerksamkeit, die zunächst nichts anderes als Freundlichkeit hatte sein wollen, die in ihr die Jugend wiedererweckte.
    Zuerst war es der Junge gewesen. Dann hatten sie zu dritt beieinandergesessen und plötzlich einer Familie geglichen, der Familie, die er nie gehabt hatte, der Familie, die sie verloren hatte. Aber konnten sie denn diese kleine Familie sein, ohne dass er und sie sich verhielten wie Mann und Frau?
    Er war ein alter Mann. Er erinnerte sich selbst wieder daran. Alte Männer haben ihre festen Bahnen, genau wie die Planeten, die um die Sonne kreisen, doch die Sonne, die sie umkreisten, war eine Sonne, die
abkühlte. An dieser Stelle beendete er die Diskussion. Er musste in seiner Bahn um eine verglühende Sonne bleiben. Er befand sich mitten in der Eiszeit des Lebens, und auf den offenen Flächen, die der Schnee noch nicht bedeckt hatte, konnten lediglich Flechten gedeihen.
    Doch seine Hände sprachen eine andere Sprache, als er seine weißen Leinenschuhe band und sich einen Strohhut auf den Kopf setzte. Am Esstisch blieb er stehen und zupfte eine weiße Margerite aus dem Strauss, den die Haushälterin mitten auf den Tisch gestellt hatte. Vor dem Spiegel im Eingang ließ er noch einmal seine Hand durchs Haar gleiten, bevor er die Margerite ins Knopfloch seiner hellen Sommerjacke steckte. Dann öffnete er die Tür und ging die Treppe zur Prinsegade hinunter, voll des blinden Triumphes, den Menschen manchmal empfinden, wenn sie ihren eigenen gesunden Menschenverstand besiegen.

    Knud Erik war zu Hause, als er hereingebeten wurde. Klara Friis hatte das lange Haar aufgesteckt, und er bemerkte, dass es frisch gewaschen war. Er verfolgte die wechselnden Moden nicht, die jede Saison in den Schaufenstern bei I. C. Jensen in der Kirkestræde ausgestellt wurden, aber er konnte am Schnitt ihres Kleides, das ihr bis zur Mitte der Waden reichte, erkennen, dass es nicht neu war. Es handelte sich um ein Kleid, das sie anlässlich dieses Abends herausgesucht haben musste, aus den ersten Jahren ihrer Ehe vielleicht oder sogar noch aus einer Zeit, als auch sie voller Hoffnungen steckte – und Jugend.
    Es war für drei gedeckt, was ihn gleichzeitig enttäuschte und beruhigte. Knud

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