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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Postamt und Henckels Arbeiterwohnhaus. Die Treppe bestand aus Granit und hatte breite Stufen, die parallel zur Straße zu einer lackierten, glänzenden Eichenholztür mit einer Klinke aus Messing führten. Es sah aus wie der Eingang zu einer Burg.
     
    Von der neuen Schiffswerft konnte man hin und wieder den Lärm eines Niethammers hören, aber noch immer war nicht ein Schiff vom Stapel gelaufen.
    Albert grüßte den Bootsbauer Peter Raahauge, dem er zur Feierabendzeit auf dem Heimweg durch die Buegade begegnete. Raahauge erwiderte den Gruß mit einem Finger an der Schlägermütze und blieb stehen. Albert fragte ihn nach der Arbeit auf der Werft.
    «Sehen wir denn bald, wie ein Schiff zu Wasser gelassen wird?»
    Der Bootsbauer stellte den Werkzeugkasten auf die gepflasterte Straße und verschränkte die mächtigen Unterarme. Über seinen dicht behaarten Armen hatte er die Ärmel aufgekrempelt. Er schob die Unterlippe vor und schnaubte verächtlich in seinen Schnurrbart, bevor er verneinend den Kopf schüttelte.
    «Das ist schon ein merkwürdiges Unternehmen», antwortete er. «Wenn es denn so wäre, dass man bereits ein Schiff gebaut hat, sobald man es nur auf Kiel legt, dann habe ich in meiner Zeit dort schon viele
Schiffe gebaut. Spanten und Stahlplatten habe ich jedenfalls noch nicht gesehen.»
    «Und wie rechnet sich so was?», fragte Albert. «Ich begreif’s nicht.»
    «Tja, wir anderen Sterblichen verstehen das auch nicht. Aber das liegt nur daran, dass wir nicht so klug sind wie Henckel. Sehen Sie, Kapitän Madsen …»
    Raahauge neigte seinen Kopf ganz dicht zu Albert hinüber. Die Stimme sank in eine vertrauliche Tonlage.
    «Der Ingenieur hat es doch so eingerichtet, dass die Norweger die erste Rate bereits bezahlen, sobald der Kiel gelegt ist. Er lädt sie hierher zu Champagner ein und präsentiert ihnen den Kiel, und dann glauben sie, das Schiff sei so gut wie fertig. Sie wissen ja nicht, dass die letzte Gruppe sich denselben Kiel angesehen hat. Es ist immer derselbe Kiel, den wir die ganze Zeit präsentieren.»
    «Dann kassiert Henckel also große Summen für Schiffe, die er nie liefert. Ja, aber das ist doch Betrug.»
    Albert war verärgert.
    «Das haben jetzt Sie gesagt, Kapitän Madsen, nicht ich. Aber ich werde mich schon bald nach einer anderen Arbeit umsehen. Denn das hier – das geht nicht lange gut.»
    Peter Raahauge grüßte mit einem Finger am Mützenschirm und verschwand in der Straße.

    Albert hatte viele Jahre Krabben gefischt. Viele von uns taten es, wenn wir an Land gingen. Einige aus purer Not. Für Albert stellte es einen Zeitvertreib dar. Das Inselmeer war das Meer der Kinder und der alten Männer. Albert war von Kindheit an mit all den kleinen Inseln, Buchten, Landzungen, Fahrrinnen, Sandbänken und unsichtbaren Strömungen vertraut. Zusammen mit den anderen Jungen der Stadt hatte er das Inselmeer damals erkundet, jetzt suchte er die vertrauten Orte wieder auf. Zwischen Kindheit und Alter lagen die Weltmeere. Nun kehrte er zurück zu den kleinsten Buchstaben der Seekarte. Er hatte in den guten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, und als er unter dem
fürchterlichen Regiment seiner nächtlichen Traumankündigungen stand, konnte er sich in die Krabbenfischerei flüchten. Wenn er in Gedanken versunken seine Krabbenreusen einholte, herrschte Waffenstillstand unter den am Himmel dahintreibenden Wolken.
    Eines Abends dachte Albert an die Krabben, als er sich von Knud Erik und seiner Mutter verabschiedet hatte und durch die Nygade nach Hause in die Prinsegade spazierte. Krabben. Er wollte Knud Erik mitnehmen, wenn er das nächste Mal nach seinen Reusen sah. Dann lernte der Junge auch dies, und mit einem Eimer voll Krabben konnte er immer zu seiner Mutter nach Hause kommen. Die übrigen Krabben könnten sie am Hafen verkaufen, dann hätte Knud Erik Geld und würde als stolzer kleiner Mann seine Einnahmen heimbringen. Es wäre zum Teil ein Spiel, andererseits aber auch in der schwierigen Situation eine wirkliche Hilfe für die Witwe, die bestimmt keine andere Form von Unterstützung annehmen würde. Er selbst verschenkte seinen Krabbenüberschuss normalerweise an Leute, die in sein Kontor kamen, oder er gab ihn Lorentz auf der anderen Straßenseite.
    In diesem Sommer legte er seine Reusen an der Küste von Langeland aus. Er hatte oben bei Sorekrogen begonnen und sich in Richtung Ristinge vorgearbeitet. Er fischte in den hellen Sommernächten. Das Wasser war spiegelblank. Wenn er in die

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