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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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französischen Akzent aus, aber ihr Englisch war fehlerfrei.
    Ihr Blick war lebhaft, voller Neugier und einer spielerischen Ironie, als ob sie seine Verlegenheit ahnte und sich nun selbst entmystifizieren wollte. Er hatte ihren Blick vorher nicht bemerkt, nur ihre langen, dichten Wimpern, wenn sie ihn senkte, nicht die Augen dahinter.

    «Als ich das erste Mal sah, wie ein Brand gelöscht wurde», sagte sie. «Verstehen Sie, in China glauben wir, dass ein Brand von bösen Geistern verursacht wird. Wenn in einem Haus Feuer ausbricht, versuchen wir, die Geister zu vertreiben.»
    Sie machte eine kleine Kunstpause, um die Fortsetzung zu betonen.
    «Mit Lärm. Mit Trommeln und Becken. Ich habe so viele Häuser zur Begleitung von Trommelschlägen bis auf die Grundmauern niederbrennen sehen. Wir haben eine fünftausend Jahre alte Kultur, und in all diesen fünftausend Jahren sind wir nicht auf die Idee gekommen, Feuer mit Wasser zu löschen.
    Die Engländer bauten in Schanghai eine freiwillige Feuerwehr auf. Dann brach ein Brand in einem Haus auf der anderen Seite der Straße aus, in der ich wohnte. Es passierte abends, und die englischen Gentlemen, die freiwillig arbeiteten, kamen direkt von einem Abendessen, bekleidet mit Zylindern, Schoßröcken und weißen steifen Hemdbrüsten, die vom Ruß schnell schwarz wurden. Sie richteten lange Wasserschläuche auf die Flammen. Als das Feuer mit einem Brodeln erstarb und der größte Teil des Hauses noch stand – das war der Moment, an dem ich mich in den Westen verliebte. Verstehen Sie, was ich meine, Monsieur Madsen? Meine Philosophie ist im Grunde genommen einfach. Man löscht Feuer mit Wasser. Darum lebe ich hier und nicht in China.»
    Sie lachte ihm zu. Er lachte zurück und nickte.
    «Ja, und meine Philosophie ist, dass das Wasser da ist, um darauf zu segeln. Aber so ganz verschieden sind wir wohl nicht.»
    In diesem Augenblick schlug seine Ehrfurcht in Liebe um. Hier war eine Frau mit einer Lebenseinstellung, die seiner nahekam. Ihre heitere Gradlinigkeit war befreiend. Ihre Schönheit wurde für ihn plötzlich erreichbar. Dass Cheng Sumei nach dem Tod ihres Mannes das Geschäft übernahm und erfolgreich weiterführte, wunderte ihn nicht eine Minute. Er hatte es längst in ihr gesehen.
    Er war nicht nur ein Mensch, wenn er mit ihr zusammen war. Er war viele Menschen. So ist ein Seemann notwendigerweise. Er ist jemand daheim, ein anderer auf Deck und ein Dritter in einem fremden Hafen. Und doch ist er niemals mehr als ein Mensch auf einmal. Seine inneren Menschen sind durch Ort und Zeit getrennt, immer mit einem großen Abstand zueinander. Wie ein Schiff hatte er wasserdichte Schotten in
sich, die es vor dem Sinken bewahrten. Aber zusammen mit Cheng Sumei konnte Albert mehrere Menschen gleichzeitig sein. Er war zuallererst das, was er als Kern seiner selbst ansah, Seemann und Kapitän, und er dachte oft, dass sie beide, Cheng Sumei und Albert Madsen, wie zwei Kapitäne auf demselben Schiff waren, ein ungleiches Paar, das dennoch niemals die Autorität des anderen in Frage stellte oder die Sicherheit des Schiffs aufs Spiel setzte.
    Aber er war auch der junge Mann, an den er sich von den Bordellbesuchen seiner Jugend erinnerte. Da war es ja nicht immer nur rau zugegangen. In den Bordellen von Bahia oder Buenos Aires war der junge Seemann in den Marmorpalästen mit ihren Springbrunnen und Palmen, Seidenlaken und spiegelverkleideten Decken und Wänden ein verlegener Gast gewesen. Und das Mädchen, ja, sie war ein dienstbarer Geist, sie war auf der Welt, um seine Wünsche in einer kurzen, treulosen Stunde zu erfüllen; und obwohl sie ihn bediente, war sie doch auch ein überlegener Geist. Wie unsicher und unglaublich schüchtern, wie bodenlos unwissend und dankbar zur gleichen Zeit hatte er sich unter diesen kundigen Händen gefühlt, die so viel über seinen Körper wussten, wovon er selbst keine Ahnung hatte. Über diesen geschundenen Körper mit den ständig schmerzenden Muskeln, gepeinigt von den Anstrengungen im Rigg, voller Salzwasserbeulen und nicht ausgeheilten Wunden, stets auf der Hut, immer bereit, aus der bitteren Notwendigkeit der Selbstbehauptung zurückzuschlagen.
    Er hatte sich in diesen Bordellen nie als Herr über irgendjemanden gefühlt. Er ging nicht dorthin, um die zweifelhaften Privilegien eines Herrn zu genießen. Er fühlte sich als Gast, und er benahm sich mit der abwartenden Höflichkeit eines Gastes. Seine ständig geballten Fäuste öffneten sich für

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