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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Wiedersehen.»

    «Ich will auch auf Wiedersehen sagen.»
    Sie hörten Schritte auf dem Boden. Dann stand Knud Erik als dunkle Silhouette in der Tür.
    «Wieso ist das Licht nicht an?»
    Klara fand den Schalter und knipste das Licht an. Albert ließ eine Hand durch das Haar des Jungen gleiten.
    «Gute Nacht, mein Junge. Zeit, schlafen zu gehen, wie deine Mutter sagt.»
    Er wandte sich Klara zu, vermied es aber, ihr ins Gesicht zu sehen. «Gute Nacht, Frau Friis, und nochmals danke für den Abend.»
    Er gab ihr die Hand. Ihre Handfläche war heiß und verschwitzt. Selbst dieser formelle Kontakt war ihm plötzlich zu intim. Er zog die Hand zurück und nahm den Strohhut vom Kleiderhaken. Dann öffnete er die Tür. Er hörte, wie sie hinter ihm geschlossen wurde, und lief hinunter zum Hafen. Er war viel zu aufgewühlt, um direkt nach Hause gehen zu können.
    Als er in die Havnegade einbog, bemerkte er, wie sich eine Gestalt von der Skipperbank gegenüber vom alten Hafen Sønderrenden erhob.
    «Guten Abend, Kapitän Madsen.»
    Albert nickte kurz unter dem Strohhut. Er mochte sich jetzt nicht auf ein Gespräch einlassen. Aber der andere kam auf ihn zu und hielt auf der Havnegade Schritt mit ihm.
    «Sie sind noch spät unterwegs.»
    Albert erkannte in der massigen Gestalt Herman.
    «Ihnen muss ich gewiss keine Rechenschaft über mein Verhalten ablegen», sagte er abweisend.
    «Hübscher Anzug.»
    Herman zeigte sich unbeeindruckt von seinem feindseligen Tonfall. Albert erhöhte das Tempo. Herman tat es ihm gleich.
    «Sie wirken ja so jugendlich heute Abend», sagte er mit einschmeichelnder Stimme, deren Falschheit er nicht einmal zu verbergen suchte.
    Albert blieb unvermittelt stehen und baute sich vor dem jungen Mann auf.
    «Sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von mir?»
    Herman breitete die Arme aus.
    «Von Ihnen wollen? Was meinen Sie? Ich will doch nichts von Ihnen.
Nur eine Weile in Ihrer Gesellschaft verbringen. Aber möglicherweise ziehen Sie ja die Einsamkeit vor?»
    Albert erwiderte nichts, sondern drehte sich um und ging weiter die Havnegade entlang.
    «Schlafen Sie gut!», rief Herman ihm nach. «Nach den Anstrengungen des Abends werden Sie es sicher nötig haben.»
    Es durchzuckte Albert, und seine Hand verkrampfte sich um den Spazierstock. Einen Augenblick überlegte er zurückzugehen und den Lumpenhund zu bestrafen. Er verwarf den Gedanken jedoch auf der Stelle. Diese Zeiten waren längst vorbei. Er und Herman waren ungefähr gleich groß und breit, aber der Unterschied betrug ein halbes Jahrhundert. Es würde ein ungleicher Kampf werden und er nicht nur die Prügelei verlieren, sondern auch seine Würde. Und diese Einsicht überwältigte ihn mit einer Kraft, als läge er bereits blutend am Boden.
    Er ging die Steintreppe seines Hauses hinauf und schloss auf. Im Wohnzimmer zündete er kein Licht an, sondern ließ sich schwer aufs Sofa fallen. Woher wusste der Schurke, was bei der Witwe vorgefallen war? Spionierte er ihm nach? Oder riet er bloß? War es so offensichtlich, was dort passierte? Aber es hatte ihn doch selbst überrascht. Sahen andere, was er selbst nicht sehen konnte?
    Sicher, er hatte mit diesem Gedanken gespielt, als er sich auf das Abendessen bei der Witwe vorbereitete. Das musste er sich selbst eingestehen. Aber ihm war klar, dass er es nicht wirklich gewollt hatte. Es war lediglich ein eitles Spiel mit den Möglichkeiten gewesen. Nun war es geschehen, und plötzlich fühlte er sich nackt. Was Herman sehen konnte, konnte die ganze Stadt sehen. Er musste damit aufhören. Er begriff, was es gewesen war, was er empfunden hatte, als Klara Friis sich ihm im Flur hingab. Es war Furcht. Furcht, dass sein gewohntes Leben aus der Bahn geriet, Furcht vor der Nichtbeherrschbarkeit des Daseins, Furcht, dass alles, was er als Vorbereitung auf den Herbst seines Lebens hinter sich gelassen hatte, wieder auf ihn zukam.
    Er war der Schwache. Das spürte er. Sie war die Starke, auf die gleiche Weise wie Herman: weil sie jung waren.
    Eine keuchende Umarmung in einem dunklen Flur, eine Schlägerei auf der Straße, das war das Vorrecht der Jugend, nicht des Alters, und wehe dem Greis, der der Jugend zu nahekam und glaubte, er könne sich an
deren Feuer wärmen. Lächerlich und zum Narren gemacht zu werden, das war der Preis, den er dafür zahlen musste.
    Die Alten sollten sich an ihre eigene sterbende Sonne halten. Das Haus, in dem er seine Reederei aufgebaut und sein Maklergeschäft betrieben hatte, das waren

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