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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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seine Sonne und seine Bahn. Er sollte nicht gegen das Gesetz von der Last des Alters rebellieren. Er war während des Krieges in den Ruf geraten, sonderbar zu sein. Vielleicht hing ihm dieser Ruf ja noch immer an, aber damit konnte er leben. Er wollte indes nicht in dem Ruch stehen, ein Narr zu sein. Bekleidet in der Stadt herumzugehen und doch für jedermanns Blicke nackt zu sein war eine Schande, mit der er nicht leben konnte.
     
    Am nächsten Tag schlief er lange und ging nicht aus. Am darauffolgenden Tag ruderte er allein hinüber nach Sorekrogen und sah nach seinen Krabbenreusen. Wie gewöhnlich waren sie voll, sie wogen gut zehn Pfund. Er leerte die Reusen in einen Fischkasten und kam über dem Gewimmel der kleinen Tiere ins Grübeln. Er sah Knud Erik vor sich, wie er mit einem Eimer voller Krabben stolz zu seiner Mutter nach Hause lief. Dann hob er den Fischkasten auf die Reling und schüttete den Inhalt ins Wasser. Die Krabben bildeten einen Moment lang eine braune Wolke, bevor sie verschwunden waren.
    Er fand auf dem Wasser keine Ruhe, er vermisste den Jungen. Aber da war noch etwas anderes, Stärkeres, das an ihm zehrte, ein innerer Druck, der nur wuchs, weil er ihn nicht wahrhaben wollte. Er hatte nicht nur Furcht empfunden, als sich Klara im Flur an ihm rieb. Da war auch eine sinnliche Erregung gewesen, wie seit vielen Jahren nicht mehr. Der bloße Gedanke an den Vorfall verhalf ihm zu einer ungewohnten Erektion.
    Er war ein alter Mann, der an einem Sommermorgen in einem Ruderboot auf dem Meer saß und eine Erektion hatte. Er war wütend über sich selbst und gleichzeitig unbefriedigt. Er war ein Kranker in einer kritischen Phase. Die Zeit musste ihren Gang gehen, und die einzige Kur hieß Abstand.

    Es vergingen vierzehn Tage. Dann kam er nach Hause und fand Klara Friis in seinem Wohnzimmer. Sie saß auf der Sofakante und erhob sich, als er eintrat. Sie trug dasselbe Kleid wie an jenem verhängnisvollen Abend. Er ahnte die Umrisse ihres Körpers unter dem dünnen Stoff.
    «Ihre Haushälterin hat mich eingelassen. Ich habe gesagt, dass ich eine wichtige Nachricht für Sie hätte.»
    Er blieb in der Tür stehen und sah sie abwartend an. Er wusste, dass er sich unhöflich benahm, aber ein Gefühl, dass er etwas Unüberlegtes tun könnte, wenn er einen Schritt näher trat, hielt ihn zurück. Es war der Trieb, zu dem er sich in den unruhigen Stunden auf dem Wasser nicht zu bekennen gewagt hatte. Nun ergriff er Besitz von ihm, wie an jenem Abend in der Dunkelheit des Flurs: Furcht und Erregung zur gleichen Zeit.
    «Es geht um Knud Erik», fuhr sie fort. «Er versteht nicht, warum wir Sie nicht mehr sehen. Er fragt jeden Tag nach ihnen, traut sich aber nicht, selbst zu kommen. Wollen Sie denn gar nichts mehr von ihm wissen?»
    Sie richtete ihren Blick auf ihn, und er hatte das Gefühl, dass Knud Eriks Name seine Furcht verschwinden ließ.
    «Meine liebe Klara», sagte er und ging auf sie zu.
    Er nahm die Hände in die seinen.
    Sie schaute ihn an. Ihre Augen röteten sich.
    «Da ist noch etwas anderes. Ich vermisse Sie so sehr.»
    Sie riss ihre Hände los und schlang die Arme um seinen Hals, während sie ihre Lippen auf seine drückte. Mit einem Mal packte ihn die Wut. Er wollte sie wegstoßen, aber stattdessen taten seine Hände das Gegenteil. Er drückte sie an sich, küsste sie hart und schob sie rücklings aufs Sofa. Schwer landete er auf ihr und zerrte an ihrem Kleid.
    «Warte, warte», stöhnte sie.
    Sie zog das Kleid hoch und machte sich bereit für ihn. Sein Zorn verflog nicht. Als er mit einem Keuchen in sie drang, schlug er ihr hart ins Gesicht. Im Augenblick der Erregung kam es ihm vor, als schlüge er in Notwehr, aus Protest gegen ihre Jugend und das, wozu sie ihn verführt hatte. Dann fiel er stöhnend über ihr zusammen, bereits erlöst, aber eher von seinem Schlag als von ihrem willigen Körper, den er kaum gesehen oder wahrgenommen hatte. Sie drückte sich an ihn, offensichtlich unbeeindruckt
von dem Schlag, der ein brennend rotes Mal auf ihrer Wange hinterlassen hatte.
    Sein Kopf lag an ihrer weichen Brust. Er spürte es mit Unbehagen: In ihren Armen war er ein wehrloses Kind. Er wusste schon jetzt, dass er gefangen war. Er würde zurückkommen, und er würde sie wieder schlagen. Schamesröte stieg in ihm auf. Er befreite sich aus ihren Armen und begann, seinen Anzug zu richten. Sie setzte sich neben ihm auf und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
    «Mögen Sie mich?», fragte sie. «Mögen

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