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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Füße. Die hatten nur die Töchter der Reichen. Die Armen machten so etwas nicht. Und sie hatte sich von klein auf selbst versorgen müssen.»
    Klara starrte vor sich hin. Es schien, als brächte sie diese Information vom Kurs ab.
    «War sie Waise?»
    Ihm fiel auf, dass sie das Wort gebrauchte, das sie nicht aussprechen wollte, als er sie über ihre Kindheit auf Birkholm befragte.
    «Das kann man so sagen.»
    «Also ganz allein auf der Welt», sagte sie.
    Er hatte weitere Fragen erwartet, nicht nur über Cheng Sumeis Aussehen, sondern auch über die Gefühle, die sie füreinander hegten. Er fürchtete, dass ihr Gespräch in verminte Bereiche führen könnte, wo jede Antwort einen Anlass für unvorteilhafte Vergleiche und Anflüge von Eifersucht lieferte. Und er wusste, wie er geantwortet hätte. Mit kühler Distanz in der Stimme. Dies war privates Terrain.

    Stattdessen verstummte sie. Es vergingen mehrere Tage, bevor sie wieder auf das Thema zurückkam. Nun ging ihre Frage in eine ganz andere Richtung, als hätte sie in der Zwischenzeit über etwas anderes nachgedacht.
    «War die Chinesin sehr reich?», wollte sie wissen.
    Er erklärte ihr, dass sie durch die Ehe mit Presser reich geworden sei und nach dessen Tod sein Geschäft mit großem Erfolg weitergeführt habe.
    «Sie war eine unabhängige Frau», sagte er. «Eine Geschäftsfrau.»
    «Ganz allein in der Welt», sagte Klara und wiederholte sich. «Und dann wurde sie reich und unabhängig.»
    Sie starrte grübelnd vor sich hin, als würde sie aus dieser Zusammenfassung von Cheng Sumeis Geschichte eine Schlussfolgerung ziehen, die nur sie selbst betraf.
     
    Weihnachten rückte näher. Für Albert war es ein Vorwand, die Heirat auf einen unbestimmten Termin im neuen Jahr zu verschieben. Erst musste Weihnachten überstanden sein, dann könnten sie heiraten und zusammenziehen. Viel Mobiliar würde sie aus der Snaregade nicht mitbringen. Im Vergleich mit seinen Möbeln war der größte Teil Gerümpel, aber vielleicht hing sie ja dennoch daran?
    Er fragte nicht, sondern registrierte, wie sie sich in seinen Räumen mit einem neuen Blick umsah. Sie ging prüfend umher, stellte versuchsweise einen Sessel oder einen Tisch um, lediglich einige Zentimeter, oder verschob, wenn sie glaubte, er sähe es nicht, ein Sofa. Aber ihr Blick kündigte Änderungen an, die sich nicht in Zentimetern messen lassen würden.
    Große Umwälzungen standen seiner Welt bevor, der einzigen, die ihm noch geblieben war – ein beschränktes Königreich, aber doch ein Königreich, ebenso sehr aus Gewohnheiten wie aus Möbeln und Quadratmetern erbaut. Aber nun sollte er auch dies aufgeben.
    Jedes Mal, wenn sie einen Heiratstermin nannte, wurde der Abstand zwischen ihnen größer, und er gab ausweichende Antworten. Sein Widerwille war nicht zu übersehen. Er hatte sein großes Ja gegeben, ließ aber jeden Tag eine lange Reihe gemurmelter Neins folgen.
    Er dachte an den Augenblick, an dem er zu Pastor Abildgaard gehen
musste, um ihn zu bitten, in der Kirche seinen Segen zu sprechen, und alles in ihm verkrampfte sich. Der Geistliche, mit dem er so viele Diskussionen geführt hatte, dessen Pflicht, die Angehörigen zu informieren, er in den schweren Jahren des Krieges hatte übernehmen müssen, weil Abildgaard nicht die Kraft besaß, sich um seine Gemeinde zu kümmern, wie ein Pastor es tun sollte, dessen Tränen er gesehen hatte – vor ihn sollte er nun mit all seinen eigenen Schwächen hintreten.
    Bestimmt würde Abildgaard sich ironisch, ja geradezu herablassend verhalten, wenn er mit aufgesetzt väterlicher Miene daranging, den weitaus älteren und erfahreneren Mann zu ermahnen, der in so vielen Fragen sein Gegner gewesen war. Albert zweifelte nicht daran. Hier kam Abildgaards Chance, das gestörte Gleichgewicht zwischen ihnen wiederherzustellen. Obwohl er eigentlich der Ansicht war, dass er die Machtkämpfe der Stadt längst hinter sich gelassen hatte, musste er bei dem Gedanken, im Büro des Pastors vorstellig zu werden, dennoch an sich halten.
    So sehr hatte er sich wohl doch nicht verändert. Ein letzter Rest seiner Kämpfernatur existierte noch. Doch nun sollte er auf seine Würde verzichten.
    Er wusste, dass er es tun musste. Die Würde eines anderen Menschen stand auf dem Spiel. Klara würde länger als er mit einem ruinierten Ruf leben müssen. Sie hatte sich um einen kleinen Jungen und ein noch kleineres Mädchen zu kümmern. Für sie ging das Leben weiter, wenn er längst fort war. Das

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