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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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entscheidenden Schritt hinderte, nichts anderes.
     
    «Wieso hast du die Chinesin nicht geheiratet?»
    Er brauchte nicht zu antworten. Er konnte es in ihrem Gesicht sehen. Sie hatte bereits ihre eigene Erklärung parat.
    «So ist es eben mit dir», sagte sie, «du hast nie eine von ihnen geheiratet.»
     
    «Hast du mit Pastor Abildgaard gesprochen?», wollte sie wissen, als Albert das nächste Mal in die Snaregade kam.
    Er sah weg.

    «Noch nicht.»
    «Aber wieso nicht?»
    Er schwieg. Eine Ohnmacht überkam ihn, ebenso Scham. Er wusste nicht, was er antworten sollte.
    Sie biss sich auf die Unterlippe, war sich unschlüssig, was sie mit ihm anfangen solle. Sie spürte nicht die Angst in ihm, nur den Widerstand, und in ihr wuchs das Gefühl, abgewiesen zu werden.
    «Bin ich nicht gut genug für dich?», fragte sie. «Ist es das?»
    Er antwortete nicht.
    «Du hast es versprochen.»
    Ihr Blick wurde fest.
    «Ich werd’s schon noch machen.»
    Er murmelte. Es war eine ungewohnte Stimme für einen Mann, der an Deck gestanden und Kommandos in den Wind gebrüllt hatte und diese Angewohnheit beibehielt, als er an Land ging. Diese Antwort war schlimmer, als hätte er nichts gesagt.
    «Ich weiß nicht, was ich glauben soll», sagte sie und schüttelte den Kopf. «Im Grunde ist es ja auch egal. Ich dachte nur, du hättest es dir auch gewünscht.»
    «Ich werd’s schon noch machen», wiederholte er.
    Er hasste sich und sie, weil sie mit ihm wie mit einem Kind redete und er selbst Schuld daran hatte.
    «Ja, dann tu es doch endlich. Dann mach es gleich morgen.»
    Er hielt das Demütigende der Situation nicht mehr aus, stand auf und ging, ohne sich zu verabschieden.
    «Du schämst dich wegen mir!», schrie sie ihm nach.

    Am Abend der Fastnacht brannte die Lampe über Alberts Tür. Für uns bedeutete das eine Einladung. Es war ein ungeschriebenes Gesetz an diesem Abend. Alle Türen standen offen. Wer keine Gäste wünschte, löschte das Licht zur Straße.
    Es war die Haushälterin, die unser Klopfen beantwortete und uns einließ. Es sah aus, als hätte sie sich auf unser Kommen vorbereitet. Die
Punschbowle stand auf einem Aufsatz bereit. Wir wollten uns gerade auf dem Sofa und den umstehenden Stühlen niederlassen, als der Gastgeber den Raum betrat. Als wir sein verblüfftes, ja unangenehm überraschtes, geradezu missbilligendes Gesicht sahen, wurde uns klar, dass wir einen Fehler begangen hatten.
    Es konnte natürlich sein, dass die Haushälterin und er sich missverstanden hatten. Später dachten wir, dass es sich durchaus auch um einen Racheakt ihrerseits gehandelt haben könnte. Sie war ja nicht gerade begeistert über die Aussicht, dass eine andere Frau ins Haus kommen sollte, und vielleicht wollte sie ihn auf diese Weise bestrafen.
    Wir hätten uns für unser Missverständnis natürlich entschuldigen und gehen müssen.
    Doch uns trieb an diesem Abend etwas Sonderbares an. Wir waren nicht so einfach zu bändigen.
    War es unsere Schuld, dass er sich später verrannte? Es war doch vor allem sein eigener Fehler. Der Skandal blieb an ihm hängen, nicht an uns. Man muss sich schon etwas gefallen lassen können an Fastnacht. Wir hatten nichts Böses im Sinn, jedenfalls nicht viel. Außerdem stand es dem Gastgeber frei, es uns zurückzuzahlen und sich selbst an den Scherzen zu beteiligen.
    Das Ganze war ein Spaß. Nichts als ein Spaß.
    Irgendeine Verantwortung für das spätere Unglück hatten wir jedenfalls nicht.
    Wir empfanden doch alle nur Sympathie für Albert Madsen. Er war für Marstal ein guter Mann. Wir gönnten ihm, dass er auf seine alten Tage noch einmal ein bisschen über die Stränge schlug. Wenn es also das war – und nicht irgendetwas anderes, was sein ständiges Zögern anzudeuten schien, wenn es um die Hochzeit mit Klara Friis ging.
    Aber was für einen Anblick müssen wir geboten haben, als er die Tür öffnete und uns plötzlich in seinem Wohnzimmer sah.
    Auf seinem Sofa saß eine Kuh und neben der Kuh eine spanische señorita mit einem Fächer in der Hand. Ihre roten Lippen waren auf einen Seidenstrumpf gemalt, den sie sich über den Kopf gezogen hatte. Die Lippen standen ein wenig offen, gleichsam als Aufforderung zu einem Kuss. Eine Bauersfrau mit einem Lampenschirm auf dem Kopf stand mitten im Zimmer, schwer und massig, in den Handschuhen steckten
Hände von der Größe eines Mannes. Es roch nach Klebstoff und Naphthalin, nach alten Kleidern und merkwürdigem Parfüm. Aus einem Nasenloch der Kuh baumelte

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