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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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war der Grund für den ganzen Auftritt, als sie zu ihm zurückkam. Ihre Schüchternheit war verschwunden. Die Selbstverleugnung hatte sie abgelegt. Sie war eine Mutter, die ihre Nachkommen verteidigte.
     
    Heiligabend verbrachten sie in der Prinsegade. Im Esszimmer war der Tisch mit Damastdecke, Silber und Porzellan gedeckt. Im Wohnzimmer wartete der Weihnachtsbaum. Albert hatte Knud Erik gebeten, ihm beim Schmücken zu helfen, und er war ihm mit dieser neuen Verschlossenheit zur Hand gegangen, an die sich Albert so schwer gewöhnen konnte. Er verstand ihn nicht und ertappte sich immer wieder dabei, Knud Eriks Verhalten als Undankbarkeit auszulegen; ein Gedanke, der ihm vollkommen fremd war, da er nie der Ansicht gewesen war, dass die Empfänger
seiner Geschenke ihm etwas schuldeten. Es endete damit, dass er gleichermaßen über sich und den Jungen irritiert war und ihn mehrmals zurechtwies.
    Er spürte nicht, dass der Junge durch seine Verschlossenheit selbst in Verlegenheit geriet und sich wünschte, sie zu durchbrechen. Doch es gelang ihm nicht. Und Alberts plötzliche Ausbrüche machten die Situation nur noch schlimmer.
    Sie brachten die schlechte Stimmung mit zum Weihnachtsessen. Knud Erik sagte während der gesamten Mahlzeit kein Wort. Klara hatte sich wieder in ihr altes scheues Ich verwandelt, verhielt sich wie ein Dienstmädchen, das durch einen Zufall an den Tisch der Herrschaft gebeten worden war und jeden Augenblick damit rechnete, zurück in die Küche geschickt zu werden. Albert saß düster und angespannt da, voller dunkler Vorahnungen. Die Haushälterin servierte mit einer vor Missbilligung eisigen Miene. Klara sah sie verstohlen an, und Albert wusste sofort, dass er nach der Hochzeit als Erstes die Haushälterin würde entlassen müssen, die ihm fünfzehn Jahre treu gediehnt hatte.
    Edith kletterte auf seinen Schoß und begann, mit ihrem Löffel in den Reispudding zu schlagen.
    «Papa», sagte sie und zog ihn mit der freien Hand am Bart.
    Er schwieg. Er hatte es aufgegeben, sie zu korrigieren.
    Sie standen vom Tisch auf, um sich um den Weihnachtsbaum zu scharen. Doch der Baum war zu ausladend, sie konnten ihn nicht umfassen, und wie in stiller Übereinkunft versuchten sie erst gar nicht, sich an den Händen zu nehmen. Es wurde auch nicht gesungen.
    Wir werden nie eine Familie sein, dachte Albert, wir sind bloß die Wrackreste von etwas, das einmal Familien waren. Sie eine Witwe mit zwei Kindern und ich ein sonderbarer Einsiedler, der nie aus seiner Höhle hätte kommen sollen.
    Unter dem Baum lagen einige Päckchen. Klara hatte nicht viele Geschenke besorgt, und Albert war, als hätte ihm die neue Situation die Freude am Schenken verdorben. Ihr hatte er ein Paar Fellhandschuhe gekauft und Knud Erik eine Schachtel Zinnsoldaten. Edith bekam eine Puppe. Er erhielt einen Tabaksbeutel. Still packten sie ihre Geschenke aus und bedankten sich höflich.
    Als sie aufbrachen, um zurück in die Snaregade zu gehen, drehte Klara
sich in der Tür um. «Nun musst du aber einen Termin finden und mit Pastor Abildgaard sprechen», sagte sie.
     
    Zwischen Weihnachten und Neujahr sahen sie sich häufiger. Alberts Schwester kam aus Svendborg zu Besuch, außerdem machten sie Emanuel Kroman ihre Aufwartung. Alle betrachteten sie nun als Paar. Niemand zweifelte daran, dass bald die Hochzeit stattfinden würde, und daher erkundigte sich auch niemand nach dem Datum.
    Die gedrückte Stimmung zwischen ihnen hielt an, doch schließlich einigten sie sich auf einen Sonnabend Ende Januar. Nach Neujahr musste er dem Pfarrhof einen Besuch abstatten und dafür sorgen, dass sie den Segen bekamen.
     
    Der Januar war grau, mit Temperaturen, die sich um den Gefrierpunkt bewegten. Regen- und Schneeregenschauer fegten durch die Straßen, die verlassen dalagen. In den Geschäften brannte den ganzen Tag über Licht. Auch im Pfarrhaus an der Kirkestræde war das Licht eingeschaltet. Albert ging im Regen daran vorbei. Aber er klopfte nicht. Es war wie bei Klaras Haus in der Snaregade, damals während der Wartezeit. Er kam häufig vorbei, ging jedoch nicht hinein. Es war nicht allein die Begegnung mit Abildgaard. Das würde er, verdammt noch mal, überleben. Es war etwas anderes und Stärkeres, das ihn zurückhielt, doch wie sehr er sich auch bemühte, er konnte es nicht benennen. Als würde er auf der Spitze eines steilen Abhangs stehen und überlegen, einen Schritt ins Leere zu tun. Es war dieser Selbsterhaltungstrieb, der ihn am

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