Wir Ertrunkenen
stellten.
Albert ging weiter, erleichtert, einen Zusammenstoß vermieden zu haben. Er war völlig mit sich selbst und seinem Schwanken beschäftigt. Er wollte fort, hinaus aus der Stadt, dahin, wo es nur das Meer und den Himmel gab – in der Hoffnung, dass sich dort eine Antwort finden ließe.
«Ha», verhöhnte er sich selbst, «für immer hier draußen zu bleiben, das wäre die einzige Antwort.»
Albert marschierte in der unbewussten Hoffnung, dort draußen auf dem schmalen Sandstreifen einen ruhigen Platz zu finden, wo niemand ihm eine Stellungnahme abverlangte.
In dem feuchten Sand ließ es sich nur schwer gehen. Nach einer Weile wurde der Sand durch Geröll abgelöst, das die Brandung angespült hatte, und er stampfte unsicher voran, bis er zum dicht bewachsenen Ende der Landzunge kam, wo sich ausgetretene Pfade durch die Vegetation schlängelten. Dann erreichte er die Stelle, an der die Landzunge abknickte wie das Ellbogengelenk eines Arms. Das Wasser lag schwer und ölig vor ihm, als ob es bereits auf die Ankunft des Frostes und eine beginnende Kristallisation wartete. Zwischen der Landzunge und der Mole gab es kleine, mit Schilf und Rohrkolben bewachsene Inseln, dazwischen breitete sich ein saugender, schwerer Schlickboden aus. Die Mole lag zwischen ihm und der Stadt. Er konnte die Masten der Schiffe sehen, die im Hafen überwinterten. Und dahinter die roten Ziegeldächer und den neu errichteten Kirchturm aus Kupfer.
Er starrte auf die Stadt, die sich wie ein Panorama an der Küste entlangzog, als ließe sich hier eine Lösung des Dilemmas finden, in dem er steckte. Plötzlich bemerkte er, dass er nicht mehr vorankam. Unvorsichtigerweise hatte er die sandige Landzunge verlassen und stand nun am Ufer einer der schilfbewachsenen Inseln im flachen Wasser.
Der Schlickboden zerrte an ihm. Er zog erst das eine Bein heraus, dann
das andere; er verlor beinahe das Gleichgewicht, doch er konnte nicht weiter. Mit einem Mal schien er zu erwachen. Er spürte, wie ihm das eiskalte Wasser in die Stiefel lief. Ungläubig schaute er an sich herab. Dann stieß er ein lautes, künstliches Lachen aus, als ob er damit seine eigene Lächerlichkeit zur Schau stellen wollte. Er spannte die Muskulatur seines rechten Beins an und zog erneut. Der linke Fuß sank tiefer ein, als das ganzes Gewicht plötzlich auf ihn verlagert wurde. Es war kein Treibsand. Er wurde nicht hinabgezogen. Er steckte nur fest. Das war doch kein Problem. Er musste es noch einmal versuchen. Er beugte sich vor, um die Stiefel herauszuziehen, und fiel beinahe vornüber. Er war ein großer Mann in einem schweren Wintermantel, der längst seine Gelenkigkeit eingebüßt hatte. Er spürte, wie sich Ratlosigkeit in ihm ausbreitete, aber er weigerte sich zu akzeptieren, dass er sich in einer gefährlichen Situation befand. Einer lächerlichen Situation, ja, aber nicht gefährlich. Und wenn er sich nach vorn ins Schilf warf? Würde er festen Grund finden und die Füße herausziehen können? Nur wusste er nicht, was sich unter dem dicht wuchernden Schilf befand. Möglicherweise wuchs es auf dem gleichen Schlickboden, in dem er festsaß, dann würde er seine Situation nur verschlimmern.
Die Sonne stand knapp über dem Horizont, und mit der Dunkelheit würde der Frost kommen. Er geriet nicht in Panik bei dem Gedanken. Noch immer fühlte er sich vor allem wie ein Trottel, der sich nur durch einen Moment der Unachtsamkeit in eine missliche Situation gebracht hatte, die bald nur eine peinliche Erinnerung wäre. Für seine Dummheit würde er höchstens mit einer Erkältung bezahlen müssen. Dann spürte er, wie die eisige Kälte von den Füßen in die Beine kroch. Einen Augenblick zitterte er. Um sich aufzuwärmen, schlug er mit den Armen, doch ziemlich schnell musste er vor Erschöpfung aufgeben; kraftlos sanken ihm die Arme herab. Doch hier konnte er nicht bleiben. Er musste sich irgendetwas einfallen lassen. Wieder spannte er die Beinmuskeln an – ohne Resultat. Der Schlickboden gab nicht nach.
Alles warf nun Schatten. Die Masttopps und Takelagen zeichneten ein Spinngewebe über dem Schilf. Der Kirchturm wuchs quer über die Landzunge und erreichte das Wasser hinter ihm. Er stand dort wie auf den Dächern der Stadt. Dann versank die Sonne hinter einem der Häuser, und die dunkle Masse der Stadt verschlang ihn. Die Stadt war so
nah, und doch hätte sie ebenso gut auf einem anderen Stern liegen können.
Plötzlich wurde Albert klar, dass er die Mole viele Jahre nur
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