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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Moment nicht, als er das Geheimnis der Stoffpuppe Karla verstand, die in den schwarzen Wassermassen der Sturmflut verschwand.
     
    Sie war im Kinderheim von Ryslinge auf Fünen aufgewachsen. Dann hatte man sie abgeholt. «Abgeholt» sagte sie nur, nun, da unter dem mütterlichen Blick der Witwe endlich der Augenblick vertraulicher Mitteilungen gekommen war. Nicht adoptiert, das war nicht der Ausdruck, den sie benutzte, denn für sie gab es kein elterliches Mitgefühl oder Fürsorge, als ein Hofbesitzer aus Birkholm sie im Alter von fünf Jahren abholte. Er brauchte eine zusätzliche Hand, eine Hand, keinen Menschen; billig im Unterhalt, soweit es Lohn, Kost und Gefühle betraf.
    Sie lachte bitter.
    Nein, wenn es um Gefühle ging, hatte sie überhaupt nichts gekostet, denn Liebe war eine Luxusware, die allen anderen vorbehalten war, nicht aber einem Waisenkind.
    Jeden Tag hatte sie das Meer vor Augen gehabt. Es war die Grenze der Insel, die Mauer um ihr eingesperrtes Leben, aber auch die Chance zu entfliehen. Sie träumte von keinem Prinzen auf einem weißen Pferd, sondern von einem Prinzen unter einem weißen Segel, und jedes Frühjahr sah sie ihn kommen. Hunderte von Segeln fuhren an der Insel vorbei – und verschwanden wieder. Sie kamen aus Marstal, und die Stadt wurde zum Ziel ihrer Sehnsucht.
    Und dann kam eines Tages das Meer zu ihr, aber wie das Jüngste Gericht brach es als Sturmflut über die Insel herein. Es brachte keinen weißen Prinzen, sondern nahm ihr Karla.
    Jetzt hatte sie endlich die notwendigen Mittel. Jetzt tauchte sie ihre Hand ins Wasser und zog Karla wieder herauf.
    «Wollen Sie wissen, wie ich Henning begegnet bin?», fragte sie.
    Die Bekenntnisse brachen aus ihr heraus, und bevor die Witwe antworten konnte, fuhr sie fort.

    «Ich traf ihn in einer Winternacht auf dem gefrorenen Meer.»
    «Auf dem Eis?»
    Die Witwe schaute sie verblüfft an.
    «Ich war so jung. Erst sechzehn Jahre alt. Ich wollte zu einem Ball nach Langeland.»
    Das Meer lag zugefroren vor ihr, als hätte die flache Insel sich ausdehnen und unbedingt mit all den umliegenden Inseln verschmelzen wollen. An einem mondhellen Samstagabend, an dem leuchtende Schneekristalle ihr den Weg hinaus in die Welt wiesen, hatte das Fernweh sie unwiderstehlich gepackt. Sie hatte sich von einem der Mädchen auf dem Hof ein Ballkleid geliehen, sie selbst besaß ja keins, sich ein Fahrrad gegriffen und war hinaus aufs Eis in Richtung Langeland gefahren. Sie flüchtete nicht, radelte nur auf die erleuchteten Häuser auf der fernen Insel zu und suchte nach dem Vergnügen des Augenblicks.
    Damals hatte sie noch den Traum in sich.
    Weit war sie jedoch nicht gekommen, denn sie stieß auf das dunkle Wasser. Eine Fahrrinne hatte offen vor ihr gelegen, eben aufgebrochen von der A.L.B., der Fähre zwischen Svendborg und Marstal, die mit ihrem schwarzen, massiven Stahlrumpf als Eisbrecher diente. Glut stieg aus dem Schornstein auf. Die Luft und das Eis unter ihren Füßen bebten. In der gerade aufgebrochenen Fahrrinne folgte der Fähre die Hydra mit gesetzten Segeln, um auf der Heimfahrt in der frostigen Nacht auch noch die kleinste Bö zu nutzen.
    Die Besatzung hatte sich an der Reling versammelt. Mit einem Mädchen im Ballkleid mitten auf dem Eis hatten sie bestimmt nicht gerechnet.
    «Wo willst du hin?», hatten sie gerufen.
    «Zum Ball nach Langeland», war ihre Antwort.
    Sie luden sie stattdessen zum Ball nach Marstal ein und hoben sie mitsamt dem Fahrrad über die Reling.
    «Du siehst so durchgefroren aus», sagte Henning. Er war der Schönste von ihnen. Und durchgefroren war sie, bis weit die nackten Beine unter dem Kleid hinauf. Er hatte sie mit in die Mannschaftsunterkunft genommen, damit sie sich in einer der oberen Kojen aufwärmen konnte; so war sie seine Frau geworden, mit zitternden blauen Lippen und einer drohenden Blasenentzündung in dem armen Eisklumpen, in den sich ihr ungeschützter Unterleib verwandelt hatte. Sie wurde nicht sofort
schwanger, Knud Erik kam erst später. So verhielt es sich auch mit Hennings Sauferei, den Wirtshausbesuchen und den endlosen Reisen.
    Eines Tages war Henning mit einer Meerkatze zu Hause aufgetaucht.
    «Meerkatzen sind die gottlosesten aller Tiere», hatte er gesagt, «der Sohn, der Enkelsohn und der Sohn des Enkelsohns der Ungerechtigkeit.»
    Das hatte ihm ein Araber erzählt.
    «Und was soll ich damit?», fragte sie.
    «Du kannst sie dir ja ansehen, wenn du mich zu sehr vermisst», hatte er erwidert, und

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